Rezension zu »Wenn ich dir jetzt recht gebe, liegen wir beide falsch« von Bianca Nawrath

Kurz nach den Ereignissen in »Iss das jetzt, wenn du mich liebst« leben Kinga und Mahmut offiziell und mit dem Segen von Kingas Familie als verlobtes Paar zusammen und planen die Hochzeit. Doch in »Wenn ich dir jetzt recht gebe, liegen wir beide falsch« geht es nicht vorrangig um Kinga, sondern um ihre jüngere Schwester Zofia. Zofia ist Mitte 20 und Referendarin an einer weiterführenden Schule in Berlin. Sie liebt es, zum ersten Mal in ihrem Leben alleine zu leben und ihren Alltag und ihre Wohnung genau nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Doch Mama bleibt eben Mama. Und genau die ist vor drei Tagen bei Zofia eingezogen – vorübergehend, weil sie sich nicht wohl fühlt ganz allein in der Wohnung im Märkischen Viertel seit Kingas und Zofias Vater in einer Entzugsklinik ist. So sauber wie seit der Anwesenheit von Mama war Zofias Wohnung noch nie, was aber nicht unbedingt etwas Gutes ist. Denn nichts liegt mehr da, wo es sein soll. Pedantische Ordnung dominiert nun Zofias einstigen Rückzugsort – die Fernbedienungen werden perfekt parallel ausgerichtet, Bilder ungefragt aufgehängt, der Kleidungsstil kritisiert und die vegetarische Ernährung als persönliche Beleidigung an Mamas Kochkünsten aufgefasst. Vorbei ist die ersehnte Ruhe nach einem stressigen Tag in der Schule, Mama lauert überall und kennt mal wieder keine Grenzen: So arrangiert sie ungefragt ein Blinddate zwischen Zofia und Anton, Arzt ohne Grenzen und Sohn einer Nachbarin in der Berliner Platte. Dumm nur, dass Zofia und Anton sich tatsächlich gut verstehen. Etwas, dass Zofias Mutter und Antons Großmutter nie erfahren dürfen, sonst fühlen sie sich nur bestärkt in ihrer Übergriffigkeit und die Einmischungen werden nie enden. Also beginnt Zofia mit dem, was ihre Familie vielleicht am Besten kann: Heimlichtuerei und Geheimnisse. Denn obwohl Zofia ihre Mutter liebt, haben ihre Geduld Belastbarkeit Grenzen. So holt Zofia Kinga mit ins Boot, denn die beiden sind sich einig: So kann es nicht weiter gehen. Ihre Mutter braucht ein Hobby, braucht Kontakte in ihrem Alter, damit die Einmischung und der Kontrollzwang endlich ein Ende haben. Außerdem muss vorgesorgt werden. Denn auch wenn die Abwesenheit ihres Vaters tot geschwiegen wird, steht doch die unausgesprochene Frage im Raum: Was passiert mit ihrer Familie, wenn sein Entzug beendet ist? 

»Wenn ich dir jetzt recht gebe, liegen wir beide falsch« ist mehr als eine gelungene Fortsetzung von »Iss das jetzt, wenn du mich liebst«. Es ist eine ganz neue, ganz eigene Geschichte, die sich am Ende doch um dieselben Personen und dasselbe Thema dreht: die Familie. Durch den Perspektivenwechsel von Kinga zu Zofia erhält die Familiengeschichte mehr Struktur, mehr Tiefgang, mehr Nuancen und Farben und Feinheiten. Sie wirkt noch realer, noch echter. Zofia, eine junge Frau, die ihren Platz in der Welt sucht, Erfüllung und Frustration gleichermaßen in ihrer Tätigkeit als Lehrerin findet, die sich mit Budget-Fragen und nervigen Kolleg*innen herumärgern muss und die, obwohl erwachsen, doch auch für immer die Tochter ihrer Mutter, mit dem inneren Konflikt kämpft zwischen Rebellion und der Größe, zugeben zu können, dass Mütter auch mal recht haben können. Zofia und Kinga, zwei Schwestern gefangen im ewigen Kreislauf aus Rivalität und Zusammenhalt. Die – mit genügend Abstand –  tiefgehende Liebe zwischen einer Mutter und ihren Töchtern, die Töchter auch mal zur Mutter und die Mutter zum Sorgenkind macht. Eine Mutter, die obwohl in der Mitte ihres Lebens ihren Platz erst neu und zum ersten Mal finden muss. Die immer gekämpft hat, immer stark war, die Familie immer zusammen gehalten hat, die so viel mehr ertragen hat, als allen anderen bewusst ist, und die so sehr festhält, dass sie nicht weiß, wie sie los lassen kann. Eine Frau, die trotz Mann im Grunde immer alleinerziehend und einsam war. Die durch die ständigen Konfrontationen mit ihren Töchtern weiß, dass sie aufhören muss zu klammern, dass ihre Kinder groß sind und eigene Leben führen, die aber gleichzeitig Angst hat vor der Leere in ihr. Weil sie ihren Kindern, ihrem Mann, ihrer Familie einst ihr eigenes Leben geopfert hat und jetzt mit nichts da steht. Die zwar weiß, was sie nicht mehr will, aber Angst hat vor dem Neuen. Obwohl die Geschichte aus Zofias Sicht erzählt wird und wie bereits in »Iss das jetzt, wenn du mich liebst« mit Rückblenden ihre Kindheit, ihre Persönlichkeit und den Zustand ihrer Familie beleuchtet, erfahren die Lesenden in »Wenn ich dir jetzt recht gebe, liegen wir beide falsch« so viel über Zofias und Kingas Mutter. Über komplizierte Familienstrukturen, Veränderungen und die Liebe, die alle verbindet. 

Wieder ein außergewöhnlicher, feinfühliger, humorvoller und emotional einfach mitreißender Roman über drei verdammt starke Frauen auf ihrer Reise durch's Leben. Diese Familie fühlt sich für mich so real an, so vielschichtig und, obwohl so speziell, doch gleichzeitig stellvertretend für jede andere Familie. Wie heißt es doch so schön bei Tolstoi? »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Bitte mehr davon!




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Daten zum Buch
Titel: Wenn ich dir jetzt recht gebe, liegen wir beide falsch
Autor*in: Bianca Nawrath
Sprache: Deutsch
Verlag: Ecco
Hardcover | 304 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0055-8

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