Rezension zu »Mimik« von Sebastian Fitzek


»Sie trauerte um einen Menschen, den sie ihr Leben lang geliebt und an den sie sich erst vor wenigen Sekunden wieder erinnert hatte; und diese Trauer erdrückte sie regelrecht, nahm ihr die Luft zum Atmen, Denken und Handeln. Sie roch, sah, schmeckte und hörte nichts, fühlte nur noch.« 

Eine Frau erwacht in einem ihr unbekannten Hotelzimmer, mit Kabelbindern am Bett befestigt und einer frisch operierten Wunde im Bauchraum. Sie weiß nicht, wer sie ist oder wie sie in diese Situation gelangt ist. Doch lange hält dieser furchtbare, wenn im Rückblick auf gnädige Zustand des Unwissens nicht an, denn ein Mann betritt den Raum. Ein Mann, das weiß die Frau von den Nachrichten, die sie eben im angeschalteten Fernseher gesehen hat, als »Der Chirurg« bekannt ist – ein aus dem Gefängnis entflohener Soziopath und Mörder, der sich in Krankenhäusern als Chirurg ausgegeben und Menschen bei den von ihm durchgeführten OPs getötet hat. Und dieser Mann hat Pläne mit ihr. Er zeigt ihr das Verhörvideo einer Frau, die ihr sowohl fremd als auch vertraut vorkommt, das Hinschauen tut weh. Eine Frau, die sich als Hannah Herbst vorstellt, Deutschlands führende Mimikresonanzexpertin. Ihr Job ist es, eben diese kleinen, für die Dauer eines Wimpernschlags auftretenden Mikroexpressionen der Menschen zu beobachten und zu analysieren, die Aufschluss geben über die wahren Gefühle. Denn Worte können Lügen, unsere Mimik und Gestik nicht. In dem Video gesteht Hannah den Mord an ihrem Mann und seiner Tochter aus erster Ehe, sowie den Mordversuch an ihrem gemeinsamen, seit der Tat verschwundenen Sohn Paul. Die Wunde, die noch nicht verheilt wurde, zeugt vom fehlgeschlagenen Selbstmordversuch Hannahs. »Der Chirurg« will wissen, wo Paul ist, will Rache und Gerechtigkeit für ihre Taten, denn die Frau im Hotelzimmer ist sie, Hannah Herbst. Obwohl sie sich an absolut nichts erinnern kann, gibt ihr ihr Bauchgefühl zu verstehen, dass sie niemals in der Lage zu solch Grausamkeit wäre. Hannah bleibt nur eine Möglichkeit, ihre Unschuld gegenüber dem  »Chirurgen« zu beweisen, Paulchen zu finden und ihrer beiden Leben zu retten: Sie muss es tun. Das Video ihres Geständnissen analysieren und die Wahrheit finden, egal wie furchtbar diese am Ende sein mag.

Irgendwie kam ich zu Beginn nicht ganz rein in die Geschichte. Ich glaube aber nicht, dass es an der Geschichte an sich lag, ich war einfach abgelenkt und konnte mich nicht richtig konzentrieren, als ich das Buch begonnen habe. Nach einer Pause habe ich das Buch am selben Abend wieder zur Hand genommen und schwups – ich war drin. Sowas von. Wäre ich nicht so müde gewesen, dass ich die Augen nicht mehr habe aufhalten können, ich glaube ich hätte die Nacht durchgelesen. Am nächsten Morgen ging es weiter – klug von mir, mir das Buch für ein Wochenende mit ausreichend Lesezeit aufzuheben – denn ich konnte nicht mehr aufhören. Noch ein Kapitel und noch eins. Bis ich am Ende ankam. 

Das Thema der Mimikresonanzforschung finde ich super faszinierend, seit ich vor Jahren in irgendeiner Krimi-Serie das erste Mal davon gehört habe. Die Anwendung in Buchform fand ich super umgesetzt, spannend und informativ und so geschrieben, dass ich die Hintergründe nachvollziehen konnnte, ohne die tatsächlichen Gesten und Mikroexpressionen vor mir zu sehen. Hiervon hätte es gerne noch ein bisschen mehr sein können! Die Verwendung der diversen Schriftarten war mir auf der ein oder anderen Seite vielleicht etwas zu viel und zu konfus, aber die Optik ändert ja nichts am Inhalt – apropos Optik: Ich bin etwas schockverliebt in die Buchgestaltung unter dem Schutzumschlag, so ein schönes Buch! Die gelegentliche Verwendung der Splitpages war mal was ganz Neues, das ich noch in keinem Buch gesehen habe – ich mochte sie sehr, sie haben Tempo und eine Art Aktivität in die Szenen gebracht.

Kommen wir noch zum Inhalt: Ich habe wirklich die unterschiedlichsten Meinungen gelesen und gehört, was meine Lust auf den Thriller nur noch erhöht hat. Meine Meinung kurz und knapp (hoffentlich): Ich fand's wieder super! Wieder mal etwas weniger explizite Gewalt, aber trotzdem intensiv und spannend. Klar ist die Handlung unrealistisch und überspitzt, aber genau das will ich von einem Psychothriller: Die Möglichkeit, mich beim Lesen in etwas komplett Irrwitziges, Abartiges versinken zu können, ohne danach Angst davor zu haben, auf die Straße zu gehen, dafür sorgt die Realität schon selbst an manchen Tagen. Ja, die Charaktere gingen nicht so in die Tiefe wie z.B. bei Klara in »Der Heimweg«, aber das störte mich nicht, im Gegenteil. Ich konnte neutrale Beobachterin und zeitgleich auf eine un-emotionale Weise involviert sein. Ich war mal nicht emotional gefangen in einem Horrortrip, sondern konnte von außen zusehen, die Situation bewerten. Vielleicht hat auch das dazu geführt, dass ich so nah dran war an der Wahrheit wie noch nie zuvor bei einem »Fitzek«. Ich glaube nicht mal, dass ich das richtige Gefühl hatte, weil dafür die Ansatzpunkte fehlten, aber ab einem Punkt wollte ich, dass eine spezielle Person die Morde begangen hat – und hatte am Ende recht damit. Auch das Ende, das viele so schockierend fanden: Seit kurz vor ersten Hälfte des Buchs wollte ich, dass das passiert. Ein Teil von mir – so perfide wie das jetzt auch klingt – wollte, dass genau das passiert, was passiert ist. Ich hab's geliebt! Für mich hat Fitzek mit »Mimik« einen Psychothriller erschaffen, der eine neutrale Involviertheit ermöglicht. Ich hatte die ganze Zeit über starke »Law & Order: Special Victims Unit«-Vibes und auch hier: Ich hab's geliebt – die Serie und den Thriller. 




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Daten zum Buch
Titel: Mikik
Autor*in: Sebastian Fitzek
Sprache: Deutsch
Verlag: Droemer
Taschenbuch | 384 Seiten | ISBN: 978-3-426-28157-4

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