Rezension zu »Die schönste Version« von Ruth-Maria Thomas

»Damals, als ich dachte, meine Zukunft wäre eine spektakuläre, alles, was kommen würde, neu, aufregend und wunderbar und nicht das ermüdende Drama, das es ist.«

In den späten Nullerjahren, frühen 2010ern wächst Jella in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Ihre Jugend besteht vor allem aus: mit Freundin Shelly über Jungs reden, sich für die nächste Party fertig machen, knappe Outfits, knalliger Lipgloss, plakative Nagellacke, Alkohol, Selbstzweifel und männliche Aufmerksamkeit als Währung für den Selbstwert und Wettbewerb. Zeitschriften wie die Bravo mit ihren »5 Tipps, um ihm zu gefallen«. Sich um sich selbst willen gefallen? Überbewertet. Verstohlene Küsse mitten in der Nacht mit dem Geschmack von schalem Bier auf den Lippen? Erstrebenswert. All das ändert sich, als Jella zum Studium wegzieht und Yannick trifft. Yannick ist der Richtige, der Eine. Die Chance auf die ganz große Liebe, die Chance, genug zu sein und geliebt zu werden. Kein großer Preis, dafür kurze Röcke und tiefe Ausschnitte gegen gesittetere Kleidung, dicke schwarze Lidstriche durch dezentes Make-Up und gefärbte Haare durch den Naturton zu tauschen. Erwachsenwerden. Ankommen. Zuhause sein. Endlich vergessen können, was in dieser einen Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Das ist jede von Yannicks Macken wert. Doch aus dem erhofften Lebensglück wird Alltag. Aus dem liebevollen Yannick, der nur das Beste für sie will, wird ein anderer. Und in Jella schlummert eine Wut, die sich zunehmend ihren Weg nach außen bahnt. Sie streiten, sie schreien, sie tun sich gegenseitig weh mit Worten und Taten. Und die Nähe, die auf die Streits folgt, macht süchtig. Bis Yannick einmal zu weit geht und Jella würgt, bis sie glaubt, zu sterben. Panisch flüchtet sie in ihr Elternhaus, verbringt dort 11 Tage und arbeitet auf, was sie so lange versucht hat, zu verdrängen.

»Ich bin geblieben, weil es mein Leben war, denke ich. Und wie hätte ich mein Leben verlassen sollen?«

»Die schönste Version« erzählt von den Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen. Die schönste Version unserer Selbst und verschweigt doch nicht die hässliche Kehrseite. Die erste Liebe, die sich anfühlt wie Bier mit Himbeerbrause, wie ein Sommertag am See, wie Glück und Hoffnung und Leben. Diese erste Liebe, die nach und nach Jellas Persönlichkeit verändert, das Strahlen zum Erlöschen bringt, die sich mit der Zeit als toxische Beziehung entpuppt und mehr fordert, als Jella bereit ist, zu geben. Die Frage nach dem »Was nun?«. Jellas Gedanken in Schockstarre, ein Aufwachen, ein Anklagen. Und doch auch wieder: Selbstzweifel, Unsicherheit, diese in der prägendsten Zeit erlernte Relativierung und Unterwürfigkeit. »Was ist schon wirklich passiert?« die Frage, die es zu beantworten gilt. Im Heute und im Damals. Und mehr im Damals befinden wir uns in »Die schönste Version«, liegen doch dort die Antworten fürs Heute vergraben. Dieses Aufwachsen in der östlichen Kleinstadt, umgeben von Kiesgruben und Perspektivlosigkeit. Frauwerden umgeben von Männern, die die Körper junger Mädchen wie austauschbare Ware und Eigentum betrachten. Eine Sexualität geformt durch Male Gaze und Abwägungen. Ein Erwachsenwerden unter der Prägung misogyner Strukturen, pubertärer Abgründe, erwachender Begierde ohne Ziel, und sexuellen Übergriffen, die keine*r sehen mag. Die Erzählweise des Romans so roh, intensiv und schonungslos wie die geschilderten Erlebnisse; das Gefühl, ganz nah dran zu sein am Schönsten und am Schrecklichsten, das Jugend und erste Liebe zu bieten haben.

»Es wird die schönste Version dieses Moments sein, vollkommen schön, wie altes Hollywood, mit Himbeerbrause.«




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Daten zum Buch
Titel: Die schönste Version
Autor*in: Ruth-Maria Thomas
Sprache: Deutsch
Verlag: Rowohlt Hundert Augen
Hardcover | 272 Seiten | ISBN: 978-3-498-00695-2

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