Rezension zu »Scheue Wesen« von Clare Chambers

»In allen gescheiterten Beziehungen gibt es einen zunächst noch unbemerkten Punkt, in dem man später jedoch den Anfang vom Ende erkennt.«

Helen Hansford passt nicht so recht in ihre Zeit, für die 1960er Jahre führt die alleinstehende Mittdreißigerin ein überraschend selbstbestimmtes und unkonventionelles Leben. Die augenscheinlich gute Arbeit als Kunstlehrerin an einer Schule hat sie zum Missfallen ihrer Eltern gekündigt, um stattdessen als Kunsttherapeutin in einer psychiatrischen Klinik im Süden Londons zu arbeiten. Die Arbeit mit den Patient*innen ist zwar schlechter bezahlt und stößt in der Öffentlichkeit auf mehr Abwehr als Wohlwollen, füllt Helen aber voll aus. In ihrer Freizeit versucht sie, ihre Beziehung zu führen oder vielleicht auch zu retten. Denn dass ihre Langzeitaffäre mit Gil, einem der Psychologen der Einrichtung und Ehemann ihrer Cousine, auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt ist, spürt Helen tief in ihrem Inneren, so sehr sie auch die Augen vor der Wahrheit verschließen mag. Und ob sie mit gelegentlichen Wochenenden und heimlichen Stelldicheins so wirklich glücklich und zufrieden ist, das weiß sie auch nicht so genau. Als William Tapping in die Klinik eingeliefert wird, verändern sich nach und nach Helens Prioritäten. William ist wie Helen in seinen Dreißigern. Und er ist stumm, schweigt sich aus über seine Vergangenheit. Helen und das Klinikpersonal wissen nur, was die Polizei ihnen mitgeteilt hat: Verwahrlost fand man William in der heruntergekommenen Wohnung seiner alten, verwirrten Tante; eine Wohnung, die er wie es scheint seit Jahrzehnten nicht verlassen hat. Während William für die meisten unsichtbar bleibt, entdeckt Helen schnell Williams künstlerisches Talent und lässt sich mitreißen von seiner bewegenden Geschichte, bei der doch so viel im Verborgenen liegt. Doch Helen ist hartnäckig und macht sich auf die Suche nach Antworten.

Ach William. Wie ist er mir ans Herz gewachsen dieser kleine, scheue Junge im Körper eines erwachsenen Mannes. Wie sehr hat mein Herz mit ihm gelitten. »Scheue Wesen« erzählt eine Geschichte in zwei Zeitsträngen: In der Jetzt-Zeit, den 1960ern, begleiten wir Helen durch ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Affäre, ihre Gedanken und ihre Suche nach dem Geheimnis um Williams Vergangenheit. Gleichzeitig, Stück für Stück, tauchen wir im Laufe des Buchs immer tiefer ein in Williams Innenleben, arbeiten uns von Heute bis Damals durch seine Lebensgeschichte. Dabei werden Fragen aufgeworfen, die Geschichte verdichtet sich und wir als Leser*innen kommen nicht umhin, zu rätseln, zu bangen, was passiert ist in Williams Vergangenheit, an welchem Punkt sein Leben kippte und er verbannt wurde ins Haus. Die Wahrheit dann so tragisch wie schmerzlich. Ein Leben, das Mitgefühl hervorruft und stille Verzweiflung. Gefangen in einem Käfig, der Blick nach draußen, dort die Schönheit der Natur, drinnen ein verängstigter Junge, einst voller Lebensfreude und Hoffnung, der zu einem angstvollen Mann heranwachsen wird. Dieses Fenster zur Welt ist zugleich Rettungsanker und Bedrohung. Ein Blick auf das, was sein könnte, was wartet, gefährlich und sehnsuchtsvoll. Das Malen ein Ventil, eine stille Zuflucht, ein Ort nur für ihn, ein Ort der Fantasie und grenzenlosen Freiheit. Es ist Helen, die genau dies in William sieht und fördert. Sie will ihn verstehen lernen, diesen stillen Mann. Helen der erste Mensch seit langer Zeit, der William wirklich sieht. Doch es gibt mehr als eine Art der Unsichtbarkeit und so sind viele Menschen verknüpft mit Williams Leben, die auf jemanden warten, der/die sie endlich sieht. Die Suche nach Antworten verändert auch Helens Leben, lässt sie sichtbar werden, lässt sie erkennen, welche Beziehungen sie doch nur in ihren ganz eigenen Käfig sperren und was sie braucht, um frei zu sein. Auch Helen ist mir ans Herz gewachsen, diese starke, unabhängige Frau, die ihrer Zeit in so vielerlei Hinsicht voraus ist, die ein Auge hat für jene, die allzu leicht vergessen gehen, die ein Herz voller Wärme und Mitgefühl hat, die sich einsetzt für jene, die es gerade selbst nicht können. So erzählt »Scheue Wesen« ganz unaufgeregt, leise und mitreißend die Geschichte zweier Menschen, deren Leben durch den Zufall miteinander verknüpft werden; eine Geschichte über Hoffnung selbst im Hoffnungslosen, über die Schönheit der Kunst und die Magie von Menschlichkeit.

»Es hatte etwas Luxuriöses, einen vergangenen Kummer noch einmal aus dem sicheren Hafen gegenwärtigen Glücks zu erleben.«

Chambers schreibt in ihrem Nachwort, dass sie durch einen Zeitungsartikel aus den 1952 zu »Scheue Wesen« inspiriert wurde, der davon handelt, dass ein vierzigjähriger Mann, der seit 25 Jahren von seinen Nachbar*innen nicht mehr gesehen worden war, in einem baufälligen Haus aufgefunden und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Die Umstände seines Lebens und Verschwindens sowie die restlichen Zeit seines Lebens bis zu seinem Tod 1953 blieben unklar. Durch William füllt Chambers diese Lücke, gibt diesem unbekannten Mann einen Namen, eine Geschichte und mit Helen eine unglaublich unabhängige Frau an die Seite, die für ihn und seine Sichtbarkeit kämpft. Wir alle brauchen eine Helen. Ein Roman für alle scheue Wesen da draußen, die darauf hoffen, dass sich jemand die Zeit nimmt, auf sie zuzugehen. Große, von Herzen kommende Empfehlung!




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Daten zum Buch
Titel: Scheue Wesen
Autor*in: Clare Chambers
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Wibke Kuhn
Verlag: Eisele
Hardcover | 512 Seiten | ISBN: 978-3-96161-196-6

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