Rezension zu »Der Morgen gehört uns« von Davide Coppo

»Als ich mich Jahre später fragte, wo und wann alles angefangen hatte, wo der Point of no Return gewesen sein mag, stellte ich schaudernd Test, dass ich das unmöglich sagen konnte.«

Ettore ist jung, sensibel und irgendwie auch ein wenig verloren. Einer, der in der Schule immer eher eine Randfigur bleibt und wenige Freund*innen hat. Auch in seinem Zuhause in einem kleinen Ort bei Mailand, überwiegt die Stille. Seine Eltern haben schon lange verlernt, mit einander zu reden und auch die elterliche Beziehung zu Ettore ist keine überschwängliche. Nur mit seiner Großmutter Elsa kann er reden. Zwar über weniges, denn sie gehört einer Generation an, in der die wichtigen Dinge die sind, die höchstens angedeutet werden, aber immerhin. Als Ettore auf eine neue Schule wechselt, ändert sich sein Leben drastisch. Dieser Wandel geht leise, unauffällig und versteckt von statten. Der charismatische, präsente Giulio nimmt Ettore unter seine Fittiche, scheint Potenzial in Ettore zu sehen und Ettore, fasziniert von Giulios Persönlichkeit und dankbar über dessen Aufmerksamkeit, tut alles, um sich würdig zu erweisen. Als Giulio ihn eines Tages mitnimmt zur Federazione, einer faschistischen Jugendorganisation, erfährt Ettore zum ersten Mal in seinem Leben ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Begierig taucht er immer tiefer ein in die faschistische Gedankenwelt, geht auf Demonstrationen und ist wie berauscht davon, Teil etwas Großem und Wichtigem zu sein. Seine Eltern, die den Wandel ihres Sohnes mitbekommen, ignorieren ihn aus Missbilligung. Aus Angst, verurteilt zu werden und weil tief in ihm leise Bedenken an ihm nagen, wie richtig dieser Weg, auf dem er sich befindet, tatsächlich ist, zieht er sich auch vor seiner Großmutter mehr und mehr zurück. Einmal gefangen in dieser gefährlichen Spirale, radikalisiert sich Ettore zunehmend und befindet sich bald auf einem Weg, der nur auf ein Extrem zusteuern kann.

»Das ist genau das Gefühl, das ich will. Das mich definiert. Ich war glücklich, wo ich hingehörte, erkennbar und erkannt. Man hasste mich, und dieser Hass machte mich aus.«

»Der Morgen gehört uns« hat während des Lesens und immer noch etwas in mir ausgelöst, das ich nicht so recht benennen kann. Es ging mir nahe, dieser stille Ton des Erzählens, der diese Geschichte einer Radikalisierung so direkt und persönlich schildert als wären wir Leser*innen stille Zuhörer*innen in Ettores Kopf. Man spürt die persönliche Beziehung des Autors zum Thema, was erzählt wird, wirkt authentisch, weil es authentisch ist. Dieses Greifen der Mechanismen der Radikalisierung an Ettore zu beobachten, war so faszinierend wie schmerzhaft und furchtbar. Am Ende war es die Einsamkeit, die Sehnsucht nach einer Familie, die da ist, die sich für ihn interessiert, der drängende Wunsch nach einem Miteinander, nach Gesprächen statt Stille, nach einfachen Antworten auf zu komplexe Fragen und der verheißungsvolle Reiz des Gefährlichen, die Anziehung des gesellschaftlichen Gegen-den-Storm-Schwimmens, ein Experimentieren mit und Ausloten von Grenzen. Ein introvertierter, einsamer Jugendlicher, gefundenes Fressen für Beeinflussung und radikales Gedankengut. Feine Fäden, die sich zunehmend fester ziehen, bis der einzige Ausweg nur noch das Mittendurch ist. Zweifel, die mit mehr Überzeugung zum Schweigen gebracht werden, Entfremdung und Perspektivlosigkeit. »Der Morgen gehört uns« erzählt so aktuell wie nie von einem jungen Mann, der verloren geht. Ich lege euch ans Herz, selbst rauszufinden, wie Ettores Schicksal endet. Euch erwartete eine Geschichte voller Aktualität und Mitgefühl, eine Geschichte, die einen tiefen, authentischen Einblick in eine Welt verschafft, vor der man die Augen nicht verschließen darf. Und eine Erinnerung daran, aufzupassen aufeinander.

»Vielleicht entscheidet man erst dann, sich zu öffnen, wenn man in den Worten seines Gegenübers das Echo der eigenen hört.«




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Daten zum Buch
Titel: Der Morgen gehört uns
Autor*in: Davide Coppo
Sprache: Deutsch
Aus dem Italienischen übersetzt von Jan Schönherr
Verlag: Kjona
Hardcover | 240 Seiten | ISBN: 978-3-910372-29-0

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