Rezension zu »Bevor wir uns vergessen« von Éliette Abécassis

»Wie macht man weiter, wenn man alt wird? Man gibt sich einander hin, man gefällt einander und begehrt sich gegenseitig, man betrügt sich und bereut es, man liebt sich und man hasst sich ...«

Alice und Jules sind 85 Jahre alt als sie sich im Mai 2022 in Paris im Jardin du Luxembourg treffen. Doch ist dies nicht ihr erstes Treffen, bei weitem nicht. Was die beiden verbindet, was die beiden mehr und mehr vergessen, sind fast 70 Jahre an gemeinsam verbrachter Lebenszeit. Sie verbindet eine Ehe, verschiedene Wohnworte, berufliche Veränderungen, zwei Kinder und Enkelkinder. Zwei Leben, verschmolzen, gelebt und beeinflusst von den großen Momenten und Umbrüchen der Zeit. Viel ist passiert zwischen 1955 und 2022, im Großen wie im Kleinen. Schritt für Schritt erzählt »Bevor wir uns vergessen« eine Liebesgeschichte. Doch die Geschichte beginnt nicht am Anfang, nicht bei den Schmetterlingen im Bauch und einer ungewissen Zukunft voraus. Nein, die Geschichte, die erzählt wird, beginnt am Ende, an dem Punkt, an dem so viel schon vergessen ging, ein Leben dem Altern unterworfen. So tauchen wir ein in die Geschichte von Alice und Jules, verfolgen ihre Lebensgeschichte rückwärts mit. Erleben die schönen Momente, die schlimmen und die Momente, an denen alles auf der Kippe stand. Viel kann passieren in über 60 Jahren Ehe. Kinder werden geboren, es findet Annäherung statt und Entfremdung, Routine stellt ich ein, Versprechen werden gebrochen, Lügen erzählt, Geheimnisse bewahrt und dann doch ans Licht gebracht, Affären begonnen, man altert und man verliebt sich und nicht unbedingt in die Person, mit der man das Leben teilt.

»Die Geschichte ihres Lebens, wie eine Schicht aus Vergessenem und Unausgesprochenem.«

Französische Literatur hat für mich einen gewissen Flair, eine raison d'être, der sich auch dieser Roman nicht entziehen konnte. Eine Kürze mit Gewicht, ein Erzählen, das zu großen Teilen zwischen den Zeilen stattfindet. Auch »Bevor wir uns vergessen« ist ein schlichtes Buch, ein kurzer Roman, in dem so viel steckt. Wir kennen das Ende, wir kennen den Anfang, wir wissen nichts vom Dazwischen. Nichts davon, was sich abspielt in den Herzen und Köpfen zweier Menschen, die ein ganzes Leben miteinander teilen. Wie kann Liebe halten über so lange Dauer? Was hält zwei Menschen zusammen und wann ist es Zeit, loszulassen? Diesen Fragen geht »Bevor wir uns vergessen« ganz sachte und einfühlsam auf den Grund, lässt uns teilhaben an wenigen und doch so entscheidenden Momenten einer Ehe. Eine rückwärtsgerichtete Liebesgeschichte, auf der Suche nach etwas, das zu finden so unmöglich wie drängend scheint. Eine Geschichte über das Altern, über das Unausweichliche, über die Willkür des Seins, über Verantwortung und eigenes Glück, über Elternschaft. Über das Bereuen, die Sehnsucht, ein tief schlummerndes Verlagen nach mehr. Mehr Leben, mehr Zeit, mehr Leichtigkeit. Mir fehlen noch immer ein wenig die Worte, um einzufangen, was dieses Buch seinen Leser*innen geben kann, darum möchte ich euch heute einfach nur einladen, es selbst zu erleben.




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Daten zum Buch
Titel: Bevor wir uns vergessen
Autor*in: Éliette Abécassis
Sprache: Deutsch
Aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig
Verlag: Arche
Hardcover | 176 Seiten | ISBN: 978-3-7160-0013-7

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