Rezension zu »Scheidung« von Moa Herngren

»Er hat doch gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen. Sie seien eine Familie.«

Eine frisch renovierte und mit Liebe eingerichtete Wohnung mitten in Stockholm, die sich nach Zuhause anfühlt, zwei Teenager-Töchter und eine stabile, über 30-jährige Beziehung verbinden Bea und Niklas. Klar, es ist nicht immer alles perfekt, aber sie sind zufrieden und oft auch glücklich. Umso seltsamer ist es, dass Niklas nach einem Streit mit Bea wortlos die Wohnung verlässt und über Nacht nicht heim kommt. Noch macht sich Bea keine Sorgen, auch wenn es ihm nicht ähnlich sieht. Doch auch am nächsten Tag bleibt Niklas weg, antwortet nicht auf Nachrichten und Anrufe, bis er irgendwann schreibt: er müsse nachdenken, er wisse noch nicht, wann er wieder heim kommt. Bea versteht die Welt nicht mehr, schließlich war doch alles gut von dem kleinen Streit mal abgesehen, den man schon längst wieder hätte beilegen können. Aber Niklas bleibt weg, verwehrt Beas Annäherungen, Gesprächsversuche und Bemühungen, den Konflikt beizulegen, und eröffnet ihr schließlich Tage später, dass er ihr gemeinsames Leben nicht mehr leben könne, jemanden kennengelernt habe und die Scheidung möchte. Für Bea stürzt eine Welt ein, kommt doch alles aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung. Was ist nur in Niklas gefahren? Oder kommt Niklas' Entscheidung doch nicht aus dem Nichts? Ist er wirklich der böse Familienglückzerstörer oder steckt mehr hinter seinem Entschluss als auf den ersten Blick zu erkennen ist?

Gemeinsam mit Bea erleben wir aus ihrer Perspektive den Anfang vom Ende, verzweifeln an Niklas' Verweigerung, sympathisieren mit Bea und ihrer furchtbaren Lage und entwickeln eine Antipathie für den emotionslosen, egoistischen Niklas. Und doch hat jede Geschichte mehr als eine Seite. An dem Punkt, an dem Niklas Bea aus dem Nichts eröffnet, die Scheidung zu wollen, vollzieht die Erzählung einen Bruch. Plötzlich befinden wir uns in Niklas' Perspektive und durchleben die Monate, die wir bereits aus Beas Sicht können, nun aus seiner. Untermalt von gelegentlichen Erinnerungen an Niklas' und Beas frühere Jahre, tauchen wir ein in Niklas' emotionales Innenleben und sehen uns mit einer anderen Realität konfrontiert. Was brodelt unter der Oberfläche einer Person, wie viel muss passieren, bis es nach außen bricht? »Scheidung« glänzt durch eben diesen raffinierten und faszinierend aufgebauten Erzählstil, der uns als Leser*innen dazu zwingt, die Perspektive zu wechseln und eine bereits gefestigte Einstellung zu hinterfragen und an neue Eindrücke anzupassen. So entwickelt sich im Laufe des Buchs Niklas, den man zu Beginn für seine Handlungen verurteilt zu einer Person, mit der man Mitgefühl empfindet, und auch Bea wandelt sich von der urplötzlich verlassenen, armen Frau, mit der man Mitleid und Mitgefühl empfindet, durch Niklas' Perspektive zu einer dreidimensionalen Person mit Ecken und Kanten und Fehlern. Selten habe ich in einem Roman so unaufgeregt, feinfühlig und authentisch die Sonnen- und Schattenseiten einer Ehe, das Ich im Wir und die Komplexität von Menschen und Beziehungen erlebt. Der Roman bietet die Möglichkeit an, sich hineinzuversetzen in die Lebensrealität und Gefühlswelt anderer. Wie schwer es ist, wenn eine Person los lässt und die andere Person festhält. Wenn eine Person über lange Zeit hinweg eine Entscheidung gefällt hat und die andere Person vor vollendete Tatsachen stellt. Wenn das augenscheinliche, oberflächliche Glück zerbricht und Risse unter der Oberfläche zum Vorschein kommen. Wenn eine Ehe endet und etwas Neues beginnt. Was geht wirklich vor in den Köpfen derer, mit denen wir unser Leben teilen? »Scheidung« regt eigene Gedanken an, gibt Antworten, stellt Fragen und bietet währenddessen ein mitreißendes Leseerlebnis. Große Empfehlung!




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Daten zum Buch
Titel: Scheidung
Autor*in: Moa Herngren
Sprache: Deutsch
Aus dem Schwedischen übersetzt von Katharina Martl
Verlag: Kein & Aber
Hardcover | 400 Seiten | ISBN: 978-3-0369-9654-7

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