Rezension zu »Der Tywford-Code« von Janice Hallett

»Manchmal führt die Wahrheit in die Irre.«

Steven Smith, Smithy genannt, hatte alles andere als eine leichte, unbeschwerte Kindheit und familiäre Verhältnisse. Und dennoch kann er den Großteil all dessen, was schief gelaufen ist, auf eine Person zurückführen: Edith Twyford. Genauer gesagt: Auf den Moment, an dem er als Teenager durch Zufall eines ihrer Kinderbücher fand, es heimlich unter der Schulbank las, seine Lehrerin Miss Trout darauf aufmerksam wurde, überzeugt, dass darin ein geheimer Code verborgen ist, sich auf die Suche danach machte, einen gemeinsamen Klassenausflug veranstaltete ... und spurlos verschwand. Ein Verschwinden, von dem sich Smithy nie wieder erholen sollte. Jetzt, vierzig Jahre später, frisch aus dem Gefängnis entlassen, ist Miss Trouts Verschwinden und den Twyford-Code in Smithys Gedanken noch immer so präsent wie damals. Er beschließt, dem Geheimnis endlich auf die Spur zu gehen: Existiert der Code wirklich? Wozu dient er, wenn ja? Hat Miss Trout ihn geknackt und ist deshalb verschwunden? Wurde sie vielleicht sogar deswegen ermordet? Um Antworten auf jahrzehntealte Fragen zu erhalten, taucht Smithy tief ein in die Vergangenheit, trifft alte Bekannte wieder, muss sich mit seiner Familiengeschichte auseinandersetzen und erhält Hilfe von unerwarteter Seite. Denn schnell ist klar: Edith Tyword war weit mehr als nur Kinderbuchautorin, der Twyford-Code ist mehr als nur ein Märchen und das Geheimnis, das er verbirgt, ist von enormer Macht. Und wie es scheint, ist Smithy nicht der einzige, der das Rätsel endlich lösen will. Die Zeit für Antworten wird knapp.

»Der Tywford-Code« ist kein Buch wie jedes andere. Dass es sich hier um etwas Besonderes handelt, verraten bereits die ersten Seiten: Inspector Chris Rilen-Waeverton informiert einen Professor Mansfield darüber, dass er zur Zeit an einem mysteriösen Fall arbeite, bei dessen Klärung der Professor hilfreich sein könne. Zu diesem Zweck habe er die Transkripte von 200 Audiodateien beigefügt mit der Bitte um Vertraulichkeit und Hinweisen, sollte er in den Transkripten etwas von Interesse finden. Was folgt, ist genau das: Transkripte. Von Smithy mit dem Handy aufgenommen. Monologe und Dialoge, Gedanken und Fakten, von April bis Juli 2019 enthalten sie die minutiös aufgenommene Suche nach der Wahrheit. Oder dem, was für die Wahrheit gehalten wird. Die Schreibart, die eingebauten Transkriptionsfehler, der ganze Aufbau als eine Aneinanderreihung von Transkripten und dem Raten, wer spricht, in den Dialogen, erfordert eine gewisse Hingabe ans Lesen des Textes, ein Dranbleiben und Eingewöhnen, ein Akzeptieren von anderen Regeln. Obwohl ich mir stellenweise immer wieder schwer getan habe, mich in gewohnte Prosa-Gefilde zurückgewünscht habe, bin ich dran geblieben. Wie ich jetzt sagen kann: zum Glück! Denn mir hat sich ein derart durchdachtes, faszinierendes erzählerisches Konstrukt offenbart, wie ich es selten gelesen habe. Ich habe die Auflösung in keiner Weise kommen sehen und war zum Ende hin wirklich gefesselt. Eigentlich müsste man es in einem zweiten Anlauf direkt von Neuem lesen, nur mit einem Auge für die clever versteckten Hinweise. »Der Tywford-Code« ist ein einziges Spiel mit Sprache und versteckten Botschaften, mit der Rätselneugierde der Lesenden. Darin versteckt: eine feine liebevolle Geschichte über das Geschichtenerzählen, das Privileg, Lesen und Schreiben zu können und die Macht von Worten. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle unbedingt auch den enormen Respekt, den ich vor der Übersetzerin habe, der die schwierige Aufgabe zukam, die zahlreichen im Text enthaltenen Anagramme, Akrosticha und Transkriptionsfehler stimmig ins Deutsche zu übertragen. Mystery auf eine Art, wie ich sie nicht erwartet und noch nie gelesen habe.




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Daten zum Buch
Titel: Der Twyford-Code
Autor*in: Janice Hallett
Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Kremer
Sprache: Deutsch
Verlag: Atrium
Hardcover | 430 Seiten | ISBN: 978-3-85535-178-7

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