Rezension zu »WIR KOMMEN« herausgegeben von LIQUID CENTER
»Ich hätte sicher ein ganz anderes Leben, wenn ich mich nicht jedes Mal für meine Lust schämen würde.«
18 Autor*innen aus verschiedenen Generationen, Lebensumständen und Hintergründen finden sich zusammen und schreiben anonym und offen über ihre Erfahrungen mit und ihr Erleben von Sexualität und Begehren. Was dabei entsteht, ist ein Kollektivroman, der meine kühnsten Erwartungen übertroffen und gesprengt hat. Ich habe noch nie so viele Textstellen in einem Buch markiert. 26 Markierungen auf 208 Seiten. Und ich hab mich zurück gehalten. Eigentlich hätte ich einen Textmarker nehmen und das halbe Buch highlighten können. Noch nie waren Markierungen so vielschichtig, so intim, verraten so viel über mich, mein Begehren, meine Sexualität und meine Auseinandersetzung damit im Privaten wie gesellschaftlich.
»Ich habe früh gelernt: dass sich mein Wert als Mensch für einige Menschen an meinem Aussehen und an meiner Fuckability bemisst. [...] Dass mein eigenes Begehren erst aufflammen darf, wenn ich begehrt werde.«
»WIR KOMMEN« ist in und dank seiner Anonymität eine ungeschönte, ehrliche und direkte Auseinandersetzung mit Weiblichkeit*, Lust, Sex, Missbrauch und Männlichkeit*. Durch seine Anonymität bietet das Buch eine breite Projektionsfläche für das eigene Erleben. Es ist so schön wie hässlich, so direkt wie andeutungsvoll. Tabus gibt es keine, außer die eigene Scham, die so oft spürbar ist und das erzählende Schreiben beeinflusst. Wie präsent sie ist, wie anerzogen und erlernt, wie vielfach hinderlich im Ausleben der eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Nach thematischen Kapiteln strukturiert erzählen die Autor*innen von allem, das mit Begehren und Sexualität zusammen hängt. Dem ersten Mal, den ersten Tagen, Sexfantasien, guten Orgasmen und schlechtem Sex, Körperbehaarung, Körperflüssigkeit, Fremd- und Eigenwahrnehmung, Überwindung, Masturbation, Wechseljahren, Körperlichkeit, Körperwahrnehmung, jung sein und Altern, Intimität in so vielen Formen, Machtverhältnisse, Missbrauch, Vergewaltigung, Ängste, Sorgen, Fremdgehen, Verliebtsein, Geilheit, Trockenheit, Toxizität, Lust, Unlust, Beziehungen, Verletzlichkeit, Selbstzweifel, elterliche Prägung und und und. Und: das Patriarchat und seine Rolle im Ganzen. Denn: Obwohl wir uns für eine aufgeklärte, offene Gesellschaft halten, zeigen die Kapitel und Texte, wie die tief verwurzelte jahrhundertelange Misogynie besonders auf das Entdecken, Ausleben und Empfinden weiblicher* Lust und Sexualität noch immer wirkt.
»Wie könnte in einer Welt, in der alles in Machtstrukturen eingewoben ist, unsere Sexualität davon ausgenommen sein?«
»WIR KOMMEN« ist ein Buch von dem ich wünschte, mein 18-jähriges Ich hätte bereits die Chance gehabt, es lesen zu können. Ich bin froh, dass mein jetziges, 28-jähriges Ich es gelesen hat. Ich bin froh, dass mein Ich in 20, 40, 60 Jahren es lesen können wird. Dies ist ein Buch, von dem ich weiß, dass ich es wieder in die Hand nehmen werde. Für einzelne Kapitel, einzelne Passagen, gezielte Sätze. I found my bible. Eine Ausdrucksform für so viele Gedanken und Gefühle, die ich in mir und durch die Lektüre weiblicher Texte in den letzten Jahren gesammelt habe. Wer weiß, vielleicht nehme ich irgendwann einen Stift und schreibe selbst, erweitere die Kapitel um meine Gedanken, Gefühle, Erfahrungen. Es fühlt sich nach einem Buch an, das stetig weiter wächst, fluide ist und nie zu Ende geht, selbst wenn die Seiten enden. Es zu lesen war für mich eine absolute Bereicherung, ein einzigartiges Leseerlebnis und ich bin so dankbar, dass wir in einer Zeit leben, in der so etwas entstehen kann und veröffentlicht wird. Versteht mich nicht falsch, die Zeiten sind noch immer weit weg von einem Zustand, der gut wäre, was weibliche*/queere Lust und Sexualität angeht, aber Bücher wie dieses sind ein erster, verheißungsvoller Schritt in eine bessere Zukunft, denn:
»erst wenn wir nicht mehr allein schrei(b)en, allein mit unserer Scham, werden die Verhältnisse sich ändern.«
P.S.: Ja, in diesem Buch wird jede Menge explizite, eindeutige sexuelle Sprache verwendet. Und das ist gut so. Sex ist dreckig – warum sollte das Darübersprechen es nicht auch sein?
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