Rezension zu »Sieben Sekunden Luft« von Luca Mael Milsch

»Da sind so Schlingen in meinem Kopf, die sich verflechten zu dem, wofür ich keine Worte habe, nur Schweigen. Und da ist Wut, die sich vor alles schiebt. Aber noch mehr drängt sich Stille nach vorn, die alles verdeckt.«

Seit drei Monaten versteckt sich Selah nun schon vor der Welt. Drei Monate ist es her, dass Selah alles über den Kopf gewachsen ist, Selah sich krankgemeldet hat und einfach verschwunden ist. Drei Monate, die Selah in Einsamkeit verbringt. Noch immer keinen Schritt näher an einer Lösung für die rauschende Stille in Kopf und Herzen. Vielmehr wird die Flucht vor dem Alltag zu einer Konfrontation mit Selahs Vergangenheit. Eine Kindheit in bescheidenen Verhältnissen. Mit einer Mutter, zu der Selah nie eine gute Beziehung hatte. Vielmehr eine geplagt, überschattet und verkompliziert durch Strenge, Erwartungsdruck und Scham. Eine Mutter-Kind-Beziehung, die keinen Raum ließ für Gefühle, Aufrichtigkeit, Schwäche. Eine Beziehung, die Selahs komplettes Leben prägt und sich immer mehr als einer der wesentlichen Auslöser für ihr jetziges Problem offenbart. Aufgewachsen in einem Leben, in dem Selah nie die Person sein konnte, die eigentlich in Selah schlummert. Schon immer, noch immer. Mit Auswirkungen auf Jugend, Erwachsensein, Gegenwart und Zukunft.

»Er weiß, dass du irgendwie neben dir stehst, irgendwo dazwischen in dem Raum, den du von anderen ständig aufgedrängt bekommst.«

In »Sieben Sekunden Luft« begleiten wir Selah in verschiedenen Phasen des Lebens. Der erste Teil, die Flucht, springt immer wieder zwischen dem jetzt (2017), der Kindheit (1995) und dem jungen Erwachsenenalter (2006) hin und her. Der Tonus ist in jeder Zeitebene ein ganz eigener, eine Stimme, die sich erst noch finden muss. Als Kind hat Selah niemanden zum Anvertrauen, niemanden auf der eigenen Seite. So entsteht eine innere Stille und Einsamkeit, die sich fest fressen und bleiben wird. Eine komplizierte Beziehung zur Mutter, die mit zunehmenden Alter alles andere als einfacher werden wird. Als Kind widerfahren Selah verschiedene Traumata, Missbrauchserlebnisse, die tiefe Wunden in der Seele hinterlassen und von denen niemand jemals erfahren wird. Im jungen Erwachsenenalter kämpft Selah mit dem Kontrast aus Freiheit, Entfernung zur Mutter und den gesellschaftlichen, tief in Selah verwurzelten Erwartungen, die noch immer verhindern, dass Selah sein kann, wer Selah ist. Im Erwachsenenalter schließlich wird alles zu viel, Jahre der Unterdrückung führen zu einem Overload. Sieben Sekunden Luft, eine Pause, Durchatmen, dringend notwendig und doch so schwer. Der zweite Teil stellt zeitlich wie inhaltlich einen Bruch dar. Wir befinden uns plötzlich in 2023 und erleben Selah von einer ganz anderen Seite, noch immer nicht befreit von der Last der Vergangenheit, aber auf einem ganz eigenen Weg. An dieser Stelle möchte ich hierzu nicht mehr verraten. 

»Mein Atem steht still. Plötzlich gibt es mich nicht mehr.«

Ich weiß noch immer nicht ganz, wie ich »Sieben Sekunden Luft« als Gesamtwerk einstufen möchte. Die verschiedenen Erzählstränge, die verschiedenen Stimmen in den Zeitebenen haben dem Roman eine zutiefst eigene, vielschichtige Stimme verliehen. Einerseits fand ich dieses stilistische Spiel mit Erzählstimmen sehr gelungen und faszinierend, andererseits führte dies dazu, dass mich manche Ebenen weit mehr angesprochen haben als andere. Im Zentrum des Romans steht die Frage, wie man werden kann, wer man tief in sich wirklich ist. Wie man sich befreit von äußerem Druck und inneren Hemmschwellen. Wie man die gesellschaftlich auferlegte, konstruierte Scham überwindet, hinaus wächst aus Misogynie, Queerfeindlichkeit und Heteronormativität. Wie man den ganz eigenen Platz findet in der Welt. Gleichzeitig war dieses so wichtige Thema nicht immer präsent wahrnehmbar, es wurden viele ernste Themen angesprochen, wie finanzieller Druck, körperlicher und seelischer Missbrauch, psychische Erkrankungen, die die Grenzen haben verschwimmen lassen. Gleichzeitig wurden mir all diese Themen zu wenig in der notwendigen Tiefe ausgearbeitet, sie wurden gestreift und wieder fallen gelassen in den Zeit- und Momentsprüngen. Dass Milsch mit Andeutungen spielt, die sich mir nicht immer ganz erschlossen haben, förderte diese Schwierigkeit, dem Erzählten zu folgen. Es fehlte mir ein Gesamtbild, ein sich Zusammenfügen der vielfältigen Themen und unterschiedlichen Erzählstränge. Der Schmerz, das sich Verstecken und doch eigentlich Zeigen wollen, die Einsamkeit und Unsicherheit von Selah waren spürbar zwischen den Zeilen, egal in welcher Zeit, und doch bleibe ich nach dem Lesen mit dem Gefühl zurück, nicht alles verstanden zu haben. Selah als Figur, die Message des Romans konnte mich leider nicht in Gänze erreichen. Dennoch bin ich froh, »Sieben Sekunden Luft« gelesen zu haben; es war eine interessante emotionale Reise ins Innenleben einer Figur, die den eigenen Weg noch immer sucht. 




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Daten zum Buch
Titel: Sieben Sekunden Luft
Autor*in: Luca Mael Milsch
Sprache: Deutsch
Verlag: Haymon
Hardcover | 264 Seiten | ISBN: 978-3-7099-8226-6

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