Rezension zu »Hallo, du Schöne« von Ann Napolitano

William Waters führt ein unauffälliges, zurückgezogenes Leben am College, das nahtlos an eine unauffällige und zurückgezogene Kindheit und Jugend anschließt. Nur auf dem Basketballfeld, da glänzt er, findet er zu sich, wird er sichtbar. Auch der ambitionierten Studentin Julia Padavano fällt William auf. Die beiden lernen sich kennen, verlieben sich und Julia weiß schnell: Diesen Mann wird sie heiraten. So lernt William die Padavanos kennen, genauer: Julias Eltern und besonders ihre drei Schwestern. Die vier Padavano-Mädchen verbindet mehr als Schwesternschaft, sie sind beste Freundinnen und stehen sich so nahe, dass kaum ein Blatt zwischen sie passt. Julia ist die Älteste, gibt den Ton an und nimmt sich aller Probleme an. Sylvie ist etwas jünger als Julia, eine Träumerin, die ihre Zeit am liebsten in der Bibliothek und mit der Nase in Büchern verbringt und von einer großen Liebesgeschichte wie in den großen Romanen träumt. Und dann wären da noch die beiden Zwillinge Emeline und Cecilia. Erstere liebt Kinder über alles, und will selbst einmal Mutter werden, in letzterer schlummert die Seele einer Künstlerin. Die vier ergänzen sich perfekt, eine jede weiß, welche Rolle sie in der Einheit spielen muss. William, der nur seine lieblose Familie kennt, muss seinen Platz erst finden, und lernt, was es heißt, Teil einer Familie zu sein. Mit Ecken und Kanten, der Liebe, dem Chaos und den schweren Momenten. Doch Williams Kindheitstrauma schlummert unter der Oberfläche des Eheglücks mit Julia. Gleichzeitig werden die Schwestern älter, verändern sich und passen nicht mehr in das ursprüngliche Gefüge. So breitet sich ein Riss aus zwischen den einst so engen Schwestern, der sich zu einem tiefen Spalt entwickelt, Distanz schaffen und auch die folgende Generation beeinflussen wird. Bis viele Jahre später ein tragischer Schicksalsschlag die Leben der Padavano-Schwestern aus der Bahn wirft und eine Möglichkeit schafft, alte Wunden heilen zu lassen.

»Sie war nicht länger die, die sie einmal gewesen war, und noch nicht die, die sie einmal sein würde.« 

»Hallo, du Schöne« ist ein einfühlsamer Roman über Familie, Schwesternschaft und Liebe. Aus den wechselnden Perspektiven von William, Julia und Sylvie erzählt, tauchen wir ein in ihre Leben, Gedanken und Gefühlswelten und begleiten die gesamte Familie von 1960 bis 2008, erleben knapp fünf Jahrzehnte voller Leben, Niederlagen, Errungenschaften, Stolpern, Aufstehen, Verluste und Neuanfänge. Wodurch sich der Roman für mich auszeichnet, ist die besonders im Fall von William tiefgehende Charakterzeichnung und -entwicklung. Ich habe William als verlorenen, schüchternen jungen Mann kennengelernt und mit ihm gelitten, für ihn gehofft, bin an ihm verzweifelt. Selten habe ich die langfristigen Auswirkungen von Kindheitstraumata derart nachvollziehbar und psychologisch tiefgehend ausgearbeitet in einem Buch erlebt. Er wuchs mir ans Herz und ich wollte das Beste für ihn. Julia wiederum ist eine Protagonistin, die unsympathisch ist und bleibt, innerlich getrieben und unfähig, locker zu lassen. Wenn man das akzeptiert, versteht man sie. Die verbleibenden drei Padavano-Schwestern wiederum sind auf ihre jeweils ganz eigene Art sympathisch und nehmen die Lesenden für sich ein, vermitteln das Gefühl, Teil davon zu sein. So leben wir mit ihnen, überspringen manchmal Jahre, besonders einschneidende Phasen wiederum erleben wir aus allen drei Erzählperspektiven. Vielleicht waren diese Momente meine liebsten, diese Leben, die zusammenhängen und doch für sich alleine stehen, das Verständnis davon, was in den jeweiligen Personen vorgeht, das große Ganze und das Kleine. Wir sind dabei, wenn Träume sterben und Hoffnungsbande entstehen. Wir nehmen Teil an Hochzeiten, Beerdigungen, Geburten und dem Alltag. Trotz einer leichten Länge in der Mitte des Buchs und einem Ende, das für meinen Geschmack wiederum zu schnell kam und nicht ganz meinen Geschmack traf, war ich gerne ein Teil des Padavano-Waters-Clans und hoffe für William noch immer das Beste, Ankommen und Seelenheil. »Hallo, du Schöne« ist ein Familienporträt, das durch seine Alltäglichkeit der Handlung, den Erzählperspektiven und der Individualität der Figuren lebt und dabei Fragen stellt, für die jede*r für sich eine Antwort finden kann: Wer sind wir innerhalb des Familiengefüges und wer sind wir, wenn wir nur für uns sind? Wie viel von uns selbst dürfen wir opfern, um unserem Platz innerhalb der Gemeinschaft zu entsprechen? Wie lange brauchen Wunden, um zu heilen, und können wir unseren eigenen Schmerz hinter uns lassen, um anderen zu verzeihen? Ich hab's gern gelesen.




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Daten zum Buch
Titel: Hallo, du Schöne
Autor*in: Ann Napolitano
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Sprache: Deutsch
Verlag: DuMont
Hardcover | 520 Seiten | ISBN: 978-3-7558-1001-8

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