Rezension zu »Ein Schaben« von Robert Wolfgang Segel

»Zwei, die sich so stark ähnelten, dass auf Annäherung zwangsläufig immer auch Abgrenzungen folgten.«

Als Erwachsener kehrt Thomas an den Ort zurück, mit dem er die schönsten Momente seiner Kindheit verbindet: das Fauchschaben-Terrarium im Naturkundehaus des Nürnberger Tiergartens. Der Ort, der immer ihm und seinem Bruder Micha gehörte. Ein Ort, verbunden mit unzählbaren Stunden des Beisammensitzens, Schabenbeobachtens, Redens, gemeinsamen Schweigens. Zwei Brüder, vereint in einer Faszination, die in Wahrheit vielleicht weniger Faszination ist und mehr ein Weg, zusammen zu sein. Vielleicht auch ein wenig Flucht vor der Welt. 30 Jahre ist dies nun her. Aus Tommi wurde Thomas, aus Micha wurde Michael und aus der Leichtigkeit der Kindheit wurde ein Leben, das anders hätte verlaufen sollen. Denn so wie die Schaben unter Rinden und in kleinste Ecken kriechen, so kroch die Depression in Micha, von früher Jugend an, und setzte sich fest. Als Junge kann Tommi nicht fassen, was mit seinem Bruder passiert, der zunehmend verschlossen wird, sich distanziert und die Lebensfreude verliert. So fühlt sich Tommi zunehmend machtlos, überfordert, die Auswirkungen auf die einst so enge Beziehung der beiden Brüder sind schmerzend und nachhaltig; so wird Tommi fliehen, sobald. Die Mutter, eine Pastorin, die den Weggang des Ehemannes noch immer nicht verarbeitet hat, ist keine Hilfe. Sie verschließt die Augen, will nicht wahrhaben, wie ihr Sohn ihr entgleitet und investiert all ihre Kraft darin, den äußeren Schein zu wahren. Dabei wird Micha übersehen, er bekommt nicht die Hilfe, die er doch so dringend bräuchte. Depression ist eine stille, unauffällige Krankheit und still und leise holt sie sich Micha. Nun, 30 Jahre später, kehrt Thomas zurück an den Ort, an dem alles noch gut war, Tommi und Micha nur zwei Brüder und ein ungelebtes Leben voller Möglichkeiten vor ihnen. Während er den Schaben beim Kriechen zusieht, taucht er tief ein in seine Erinnerungen, in die Vergangenheit. Nicht, wie er sie gerne gehabt hätte, sondern so, wie sie war. Um sich endlich vollauf mit der Depression seines großen Bruders auseinanderzusetzen, mit der komplizierten Beziehung der beiden zueinander, mit der dysfunktionalen Geschichte seiner Familie. Für einen Abschluss und für einen Neuanfang.

»Ich bin gegangen. Ich habe die Abzweigungen genommen, sobald man sie mir angeboten hat. Und dich dabei zurückgelassen. Keine Suche nach Heimat an deren Orten, nein, eher eine Flucht aus jeder Heimat, lieber die Fremde als das Vertraute.«

Es gibt Romane, die einem bereits während der ersten Seiten zuflüstern, dass sie besonders sind. »Ein Schaben« ist ein solcher Roman für mich. Es liegt eine Kraft in der Sprache des Romans, in den feinen Sätzen, in Thomas' Monolog an seinen abwesenden Bruder, der auf eine Art Dialog ist mit den Lesenden. Hautnah und doch auf Distanz erleben wir die Geschichte einer Krankheit. Eine Krankheit wie ein bodenloses schwarzes Loch, unersättlich auf der Suche nach Licht, das es zu verschlucken gilt. Eine Krankheit, die nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch jenes der Angehörigen gewaltsam verändert und im festen Griff hält. »Ein Schaben« erzählt diese Geschichte aus Sicht eines Angehörigen, es ist ein authentisches Nacherleben, voller Gefühl und mit einem Augenmerk auf die kleinen Momente. Ja, es fühlt sich echt an, berührt und schmerzt. Denn es ist so viel mehr als nur die Geschichte einer Krankheit. Es ist auch und in erster Linie die Geschichte einer Familie. Zwei Brüder, einst so nah, nun so fern. Zwei Brüder, verbunden durch Liebe und die Unfähigkeit, aufeinander zu zu gehen. Die Geschichte eines abwesenden Vaters, dessen Abwesenheit schwer wiegt und ganz eigene Narben hinterlässt. Die Geschichte einer bibeltreuen Mutter, gefangen in ihrem Weltbild; unfähig, überfordert, die Art Mutter zu sein, die ihre Söhne bräuchten. »Ein Schaben« ist ein Versuch. Ein Versuch der Annäherung, ein Versuch des gegenseitigen Verstehens. Ein Versuch, begangene Fehler, versäumte Gelegenheiten, unausgesprochene Worte wieder wett zu machen und aufzuholen, selbst dann, wenn es vielleicht schon zu spät dafür ist. Ein wirklich starkes Debüt, das ich euch nur ans Herz legen kann und das sich nach dem Weglegen anfühlt, als hätte man Zugang zu etwas sehr Persönlichem und Wertvollem erhalten.

»Dich habe ich dabei nie verlassen, an keiner Abzweigung. Dass du, meine eigentliche Heimat, dabei immer bei mir warst, egal wo ich mich befand, [...] das habe ich dir nie gesagt.«




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Daten zum Buch
Titel: Ein Schaben
Autor*in: Robert Wolfgang Segel
Sprache: Deutsch
Verlag: Schillo Verlag
Hardcover | 192 Seiten | ISBN: 978-3-944716-64-0

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