Rezension zu »Wie Inseln im Licht« von Franziska Gänsler

»Wir hielten die Luft an, seit wir Oda nicht mehr hatten, und die Mutter sank und sank und sank.«

Zwanzig Jahre ist es nun her, seit Zoeys kleine Schwester spurlos verschwunden ist. Zoey, damals selbst noch ein Kind, hat diesen Verlust nie verwunden, die Erinnerungen sind inzwischen jedoch bruchstückhaft und schwindend. Denn obwohl Zoey groß wurde mit einer leidenden Mutter, die am Verlust ihrer jüngsten Tochter zerbrochen ist, wurde nie über das Verschwinden oder die Schwester gesprochen. Als hätte es sie nie gegeben, während ihre Abwesenheit so spürbar und allgegenwärtig war wie ein Fremdkörper im Raum. Jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, um die sich Zoey jahrelang gekümmert hat, ist Zoey als Letzte übriggeblieben. Mit dem Tod ihrer Mutter scheint auch die letzte verbleibende Chance verstrichen zu sein, doch noch die so dringend notwendigen Antworten zu finden. Um den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen, die in Frankreich beigesetzt werden möchte, kehrt Zoey zum ersten Mal zurück an die französische Atlantikküste, an der die dreiköpfige Familie bis zu jener furchtbaren Nacht gelebt hat. Mit der vertrauten Umgebung konfrontiert, kommen nach und nach lang vergessene Erinnerungen ans Licht. Widersprüchliche Erinnerungen, seltsame.  Warum wurde nie nach ihrer Schwester gesucht? Warum weicht auch der Vater den Nachfragen aus und verhält sich zunehmend merkwürdig? Was ist passiert in dieser schicksalhaften Nacht in Frankreich, die Zoey nicht mehr zu greifen bekommt und sich in ihren Gedanken wilde Fantasien um die wenigen Erinnerungsfetzen ranken, in der Hoffnung, einen Sinn zu finden in dem anhaltenden Schmerz? Antworten, Klarheit der Erinnerungen und – endlich – eine Erlösung dieses jahrzehntelangen Schmerzes scheinen so flüchtig und selten wie Inseln im Licht. Zoey begreift: Nur, wenn sie tief eintaucht in ihre Vergangenheit und bereit dazu ist, Ordnung in das Erinnerungschaos zu bringen, hat sie eine Chance auf die Wahrheit, eine Chance auf einen Abschluss, kann sie die Geister ihrer Schwester und Mutter hinter sich lassen und zu Atem kommen, bereit für einen Neuanfang.

»Wir waren drei, und jetzt bin ich allein übrig geblieben. Geist, Geist, Mensch.«

»Wie Inseln im Licht« erzählt eine melancholische Geschichte von Schmerz, Verlust und Bewältigung. Es ist ein zaghaftes Erzählen, das uns Zoey und ihr Leben, ihre Ruhelosigkeit trotz Stillstand näherbringt. Auf gewisse Art endete ihr Leben mit dem Verschwinden ihrer Schwester. Die niederdrückende Last ungeklärter Fragen, vermeintlicher Schuld und Verlustschmerz durchdringen seitdem ihr Sein. Dies drückt sich anfangs in einer bedachten, poetischen Sprache aus, die sich wandeln wird, Zoeys Gemütslage entsprechend. Es ist ein schwermütiges Buch, durchdrungen von Depression und Trauer, die zu lange kein Ventil bekommen hat. Ein feinfühliger Roman über komplizierte Familienverhältnisse, Lügen und Auslassen, einer zerbrochenen Mutter und einem schweigenden Vater. So begleiten wir Zoey auf ihrer Suche nach Antworten, auf ihrer Suche nach sich selbst, auf ihrer Suche nach einer Möglichkeit, allein weiterzumachen und sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. Doch die Vergangenheit hinter sich zu lassen, muss sie sich dieser erstmal stellen. Ihn zulassen, all ihren Schmerz, für den wegen der Trauer der Mutter nie Raum zu existieren schien. Muss sich auseinandersetzen mit der Schuld, die sie fühlt, herausfinden, was Wahrheit ist und was Lüge, was reine Vermutungen. Sie muss tief abtauchen und die von Co-Abhängigkeit geprägte Beziehung zu ihrer Mutter hinterfragen. Stück für Stück ihre Lebensgeschichte auseinanderklauben, um zum wahren Kern vorzudringen. Muss sich überwinden und beharrlich sein, wenn ihr Vater ausweichend reagiert und doch mehr zu wissen scheint, als er vorgibt. »Wie Inseln im Licht« ist eine emotionale Auseinandersetzung mit Familie, Leben und Tod, für die man bereit sein muss, in der Stimmung sein muss. Die Schwermut der Zeilen ist greifbar und macht vor den Seiten des Buches nicht halt, greift um sich und reißt mit. Obwohl ich zu Beginn ein paar Schwierigkeiten hatte, mich auf die Erzählweise einzulassen, ist irgendwann der Knoten geplatzt, sodass ich diesen kurzen Roman als phasenweise sehr intensive Lektüre erlebt habe. 

»Auf einer Website steht: Grief is love with nowhere to go. Und das fühlt sich wahr an.«




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Daten zum Buch
Titel: Wie Inseln im Licht
Autor*in: Franziska Gänsler
Sprache: Deutsch
Verlag: Kein & Aber
Hardcover | 208 Seiten | ISBN: 978-3-0369-5034-1

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