Rezension zu »ruh« von Şehnaz Dost

»Es scheint eine insgesamt lustige Welt für die Nervensägen zu sein, in der sie tagsüber beliebig Fremdheiten bestimmen und nachts tief und beruhigt schlafen, weil sie die Bestimmenden sind.«

Der ende-30-jährige Deutschlehrer Cemal hat in seinem Leben gelernt, sich anzupassen. Unauffällig zu sein und unproblematisch, still. Besonders für seine kleine Tochter Ekin möchte er ein stabiles und sicheres Umfeld schaffen. In der Hoffnung, dass seine Tochter weniger als er unter den Auswirkungen der Diaspora zu leiden haben wird. Doch das Anpassen fällt ihm zunehmend schwer. Der Alltagsrassismus, der fester Bestandteil seines Lebens ist, lässt sich in letzter Zeit kaum weg ignorieren. Hat sich so wenig verändert, seit er als kleiner Junge aus der Türkei nach Deutschland kam? Kann er als Lehrer die Denkweise seiner Schüler:innen zum Guten beeinflussen oder ist er doch nur gefangen in einem von vornherein korrumpierten System und kämpft gegen Windmühlen? Wird seine Tochter es wirklich leichter haben als er? Immer häufiger liegt Cemal nachts wach und wird in seinen Wach- wie Traumphasen heimgesucht von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde, die ihn mitnimmt in ihre Vergangenheit, in die Vergangenheit ihrer Tochter und deren Tochter, schließlich in seine Vergangenheit. Die ihn zurückbringt in ein kleines Dorf in der Südtürkei, in dem Cemal bis zu seinem achten Lebensjahr bei seinen Großeltern lebte. Bis seine Eltern ihn nach Deutschland holten. Ein fremdes Land, fremde Menschen, angeblich Zuhause. Immer tiefer taucht er ein in diese andere Welt, die er schon zu lange aus seiner Identität auszugliedern versucht. Weder deutsch noch türkisch fühlt sich Cemal tief in seinem Inneren wurzellos, zerrissen. Mehr Zuschauer als Teilnehmer an seinem Leben. Und so kommt auch die frische Beziehung zu Georg an ihre Grenzen, der erste Mensch, den er nach seiner Ex-Frau Gül an sich heranließ und doch sein Innerstes unter Verschluss lässt. Vor Cemal liegt die schwierige Aufgabe, sich seinen tiefverwurzelten Ängsten zu stellen, und zu lernen, seine eigene Geschichte zu schreiben. Für sich und für seine Tochter.

»Das gilt als Respekt vor den Älteren: sie in Ruhe zu lassen. Weil das Leben so hart ist, alle arbeiten schwer, wollen keine ungebrauchten Stimmen hören, kaum jemand hat Energie für überflüssige Worte. Und diese Kinder werden erwachsen und haben dann immer noch nicht gelernt, wie man spricht, und sie gehen Verbindungen ein mit Menschen, die es auch nicht gelernt haben.«

»ruh« ist ein in sprachlicher Hinsicht sehr poetischer Roman, der es schafft, mit seinem Schreibstil diesen zunehmend luziden, grenzverschwimmenden Zustand von Cemals Innenleben einzufangen und auszudrücken. Doch genau hier lag auch mein Verständnisproblem mit der Erzählung: Denn für mich stand der Erzählstil der Geschichte ein wenig im Weg. Manche Sätze blieben für mich verworren, ich kam nicht immer hinter die Bedeutung der verschachtelten, bedeutungsschwangeren Worte. Cemals Geschichte im Hier und Jetzt hätte ich gerne tiefer erlebt, vielleicht blieb sie ein wenig hinter den Traumsequenzen zurück, deren Sinn sich mir nicht immer ganz erschloss. Erschwert wurde mir die Lektüre durch die wiederholte Verwendung türkischer Worte und Sätze ohne Übersetzung – stilistisch interessant und modern, aber eben auch eine Sprachbarriere, die ich nicht überbrücken konnte, zulasten des Lesegefühls und des Textverständnisses. Dennoch bin ich auch froh, »ruh« gelesen zu haben. Denn es ist eine wichtige und eigenwillige Auseinandersetzung mit Identität, Migration und Rassismus. Mit dem Aufeinanderprallen zweier Welten, einer Unvereinbarkeit und der Notwendigkeit eines Neben- oder Miteinanders. In den Traumsequenzen schimmert immer wieder auch das Thema der Weiblichkeit durch, die Benachteiligung von Frauen aufgrund ihres Frauseins. Erwartungen an Männlichkeit. In »ruh« geht es darum, eine Stimme zu finden. Sich zu trauen, laut zu sein und sichtbar. Sich zu erlauben, wütend zu sein ob es Rassismus. In einer Welt, die einen lauten, wütenden türkischen Mann als Bedrohung sieht. »ruh« ist ein relevanter Beitrag zur Realität der Gesellschaft, in der wir leben. Ich wünschte nur, die Geschichte hätte mir leichter Zugang gewährt.

»Denn das macht Rassismus mit dir: Du weißt nicht mehr, was wahr ist und was nicht.«




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Daten zum Buch
Titel: ruh
Autor*in: Şehnaz Dost
Sprache: Deutsch
Verlag: Eichborn
Hardcover | 272 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0100-5

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