Rezension zu »Yellowface« von Rebecca F. Kuang

»Die ganze Zeit über denke ich, Ich habe es geschafft. Ich habe es verdammt nochmal geschafft. Ich lebe Athenas Leben. Ich erlebe die Buchbranche, wie sie eigentlich sein sollte. Ich habe die gläserne Decke durchbrochen. Ich habe alles, was ich je wollte – und es schmeckt genauso köstlich, wie ich es mir immer vorgestellt habe.«

Juniper Hayward und Athena Liu kennen sich seit ihrem gemeinsamen Literaturstudium, beide verbindet seitdem eine Art von Hassfreundschaft. Jahre nach ihrem Abschluss könnte das Leben der beiden nicht unterschiedlicher sein: Während Athena als aufstrebender Stern und wichtige asiatisch-amerikanische Stimme im Literaturbetrieb gefeiert wird und ihre Werke zu Bestsellern werden, führt Juniper ein Leben in der Unsichtbarkeit. Ihr Debütroman floppte, eine Idee für einen zweiten Roman fehlt. Den Erfolg gönnt sie Athena nicht, vielmehr glaubt sie, dass auch ihr literarischer Ruhm zustehe. Schließlich ist es nicht ihre Schuld, dass sich die Buchbranche aktuell nicht für die Geschichten »normaler«, weißer Frauen interessiert. Durch einen Zufall scheint sich Junipers Glück zu wenden: Athena stirbt bei einem tragischen Unfall in Junes Beisein. Aus einem Reflex heraus stiehlt June Athenas neuestes Manuskript, von dem noch niemand sonst weiß – »Die letzte Front«, ein Roman über die Heldentaten chinesischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs. June liest das Manuskript und weiß, dass sie einen Rohdiamanten in Händen hält. Also macht sie sich ans Schleifen. Sie überarbeitet den gesamten Text und gibt ihn als ihren aus. Die Verlage reißen sich um den Roman, der unter Junes neuem Künstlernamen Juniper Song veröffentlicht wird – denn Song, eigentlich Junes zweiter Vorname, könne als asiatischer Nachname durchgehen und dem Werk die nötige Glaubwürdigkeit verschaffen. Durch »Die letzte Front« erfüllen sich Junes kühnste Träume, der Roman wird ein Bestseller und June quasi über Nacht berühmt und erfolgreich. Mit dem Geheimnis über die wahre Urheber*innenschaft des Werks zu leben, scheint dagegen ein kleiner Preis zu sein. Getrieben vom Rausch, im Mittelpunkt zu stehen, und der Angst, wieder in Vergessenheit zu geraten, will June immer mehr, wirft jede Vorsicht über Bord – und muss sich bald der Frage stellen, wie weit sie bereit ist, für ihren Erfolg zu gehen.

»Mir war nicht klar, wie viel Angst ich davor habe: unbekannt zu sein, vergessen zu werden.«

»Yellowface« ist ein fantastischer, grandioser und fesselnder Roman über die hochgradig kompetitive Schattenseite des Literaturbetriebs und die Auswirkungen des enormen Leistungsdrucks aus Sicht einer überforderten, einsamen Frau, die so sehr dazugehören möchte, dass sie dafür wortwörtlich über Leichen geht. Aber »Yellowface« ist noch so viel mehr. Aus Sicht von June geschrieben erleben wir einen hochgradig subjektiven Zugang zum Thema, der keinen Raum lässt für emotionale Distanz. Mit June hat Kuang eine unsympathische Anti-Heldin geschaffen, die gleichzeitig fasziniert und abschreckt. Eine oberflächliche, getriebene, selbstsüchtige und rassistische Frau, die glaubt, die Welt stehe ihr zu und habe auf sie gewartet und die ein »Nein« nicht akzeptieren kann. Die Fehler nicht bei sich sucht, sondern bei anderen. Die im Laufe der Geschichte wiederholt Athenas schlechte Seiten mit einer derartigen Vehemenz ans Licht bringen möchte, um ihr eigenes Fehlverhalten zu entschuldigen, zu legitimieren, abzuschwächen. June ist ein furchtbarer Mensch und doch gibt es diese Momente, in denen ich mich dabei ertappte, Mitleid mit June zu empfinden, eine Rechtfertigung für ihre Taten zu suchen. Nur um Seiten später bestürzt den Kopf zu schütteln. Über June, über mich. Gleichzeitig eröffnet sich uns ein ungeschönter, aber notwendiger tiefer Einblick in die hässlichen, geldgetriebenen Seite der Literaturbranche, in die Unterschiede, den Konkurrenz- und Leistungsdruck, das Problem der Sichtbarkeit. Über den verwurzelten Rassismus und Sexismus in der Auswahl der Autor*innen, über fragwürdige Marketingentscheidungen und mehr Schein als Sein. 

»Sind erfolgreiche Bücher nur so erfolgreich, weil irgendwann alle ohne ersichtlichen Grund beschlossen haben, sie zum Titel der Stunde zu küren?«

Am Anfang und Ende von Junes Tat und deren Folgen steht die von ihr begangene kulturelle Aneignung. Eine Weiße, die die Arbeit einer Woman of Color und die geschichtliche Aufarbeitung der Ausbeutung, Verleugnung und Diskriminierung der asiatisch-amerikanischen Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs als ihre eigene Leistung ausgibt. Ein noch immer anhaltendes Problem. Ein Missstand, den June ohne darüber nachzudenken, reproduziert und zu ihrem eigenen, unverdienten Durchbruch nutzt. »Yellowface« umfasst eine unfassbare Breite an Themen, die alle ineinander greifen, eine Stimme erhalten und ein großartiges Ganzes ergeben. Ein aktueller, stellenweise ungemütlicher, relevanter und faszinierender Roman, der eine regelrechte Sogwirkung entfaltet und eine unerwartete Spannung aufbaut. 

Nach dem Lesen: begeistert, atemlos und noch immer beschäftigt von der Frage, wie viel wir June glauben können. Wie viel von dem, was wir in »Yellowface« lesen, entspricht der Wahrheit oder ist eine Abwandlung, Dehnung und Fiktion Junes, um das Narrativ nach ihren Wünschen zu formen? »Yellowface« ist ein Spiel mit Fiktionalisierungsebenen, mit Sympathie und Antipathie. Eine Konfrontation der Leser*innen mit den eigenen Privilegien und Vorurteilen. Schlicht und ergreifend ein großartiges literarisches Werk. 

Kurz und knapp: Ich liebe dieses Buch! Lest es!

»Am Ende geht es bloß darum, die eigenen Interessen durchzudrücken. Das Narrativ zu manipulieren; die Oberhand zu gewinnen. Alles zu tun, was nötig ist. Wenn im Literaturbetrieb schon mit gezinkten Karten gespielt wird, kannst du wenigstens dafür sorgen, dass das Blatt zu deinen Gunsten ausgeteilt wird.«




..................................................................

Daten zum Buch
Titel: Yellowface
Autor*in: Rebecca F. Kuang
Aus dem Englischen übersetzt von Jasmin Humburg
Sprache: Deutsch
Verlag: Eichborn
Hardcover | 383 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0162-4

Kommentare