Rezension zu »Wolkenkuckucksland« von Anthony Doerr

»Zeit ist die gewalttätigste Kriegsmaschine von allen.«

Konstantinopel, 1453. Während das Waisenmädchen Anna in den Mauern der Stadt als Strickerin versucht, sich und ihre Schwester am Leben zu halten, und in alten Schriftrollen Zuflucht und Ablenkung findet, befindet sich Omeir, ein feinfühliger Junge, der die Natur und Tiere liebt, mit seinen beiden Ochsen und unfreiwillig als Teil des Feldzugs auf dem Eroberungsmarsch zur Stadt. Der Krieg steht kurz bevor. Idaho, 2020, in der Stadtbibliothek. Als Rentner erfüllt sich der vom Leben gebeutelte Zeno einen Lebenstraum und arbeitet an dem, was sein Lebenswerk werden könnte: Der Übersetzung und Zusammensetzung einer nur noch in Fragmenten erhaltenen Geschichte aus der Antike. Zusammen mit ein paar Kindern, die Gefallen an der Geschichte gefunden haben, arbeitet er an einer eigens auf die Beine gestellten Theateraufführung in der Stadtbibliothek. Zur selben Zeit befindet sich auch der jugendliche Seymour in der Bibliothek, in seinem Herzen fehlgeleitete Ideologie, in seinem Kopf die Radikalisierung einer Untergrundgruppe und in seinem Rucksack eine Bombe. Noch hadert er mit sich, sie zu zünden. Irgendwo im Weltall, Missionsjahr 65. Konstance kennt nur das Leben auf dem Raumschiff »Argos«, das sich auf dem langen und weiten Weg zu einem bewohnbaren Exoplaneten befindet. An ihrem Geburtstag erhält sie Zugang zur virtuellen und schier endlosen Bibliothek der Bord-KI und verbringt fortan viel Zeit in Büchern. Konstance liebt Geschichten, besonders die, die ihr ihr Vater erzählt. Noch aufgewachsen auf der Erde, erzählt ihr aus seinen Erinnerungen heraus die Geschichte des Buches, das ihn am meisten bedeutet hat. Alles verläuft wie geplant, doch dann ereignet sich eine Katastrophe an Bord und die Gesellschaft droht zu zerbrechen.

»Aber während er nun Zenos Übersetzung rekonstruiert, wird ihm bewusst, wie unendlich viel komplizierter die Wahrheit ist und dass wir alle schön sind, auch wir einen Teil des Problems darstellen – dass es menschlich ist, ein Teil des Problems zu sein.«

Viele Jahrhunderte liegen zwischen diesen Menschen und doch sind sie alle miteinander verbunden. Durch die aus der Antike stammende und nur in Fragmenten erhaltene Geschichte, die von der schwierigen Suche eines Mannes nach einem utopischen, paradiesischen Land in den Wolken erzählt, dem »Wolkenkuckucksland«. Abwechselnd tauchen wir ein in ihre Leben, ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit, immer wieder durchsetzt von Fragmenten des »Wolkenkuckuckslands«. Was hier geschaffen wird, ist so komplex wie einzigartig. Es ist eine Geschichte, die zumindest für mich ein wenig Zeit brauchte, mich dann aber in einen Bann gezogen hat, der magisch war. »Wolkenkuckucksland« ist keine schöne Geschichte, nein, denn sie erzählt von Kindern, die in einer mehr und mehr zerbrechenden Welt zu verschiedenen Zeiten versuchen, zu leben, zu überleben, erwachsen zu werden, ihren Weg zu finden. Schmerz, Angst, Verlust und Krieg finden in jedem Jahrhundert Einzug, bringen Leid und Hoffnungslosigkeit. Während man den Geschichten folgt, fühlt man sich zunehmend verloren, droht, den Mut zu verlieren. Doch wer stark bleibt, wird belohnt werden. Wie Aethon auf der Suche nach seinem Land in den Wolken schreiten auch diese Geschichten unaufhörlich voran, bewegen sich darauf zu, zusammen zu fließen und ein großes Ganzes zu schaffen, das überrascht, schockiert, fasziniert.

Im Zentrum von »Wolkenkuckucksland« stehen Geschichten. Sie reichen vom 15. bis ins 22. Jahrhundert. Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit, Realität und Fiktion, was wäre wenn und was könnte gewesen sein. Geschehnisse, die sich durch die Zeiten ziehen: Krieg, Fanatismus, Gewalt, Größenwahn, Ablehnung. Aber auch: Hoffnung, Liebe, Gesten der Gnade und Barmherzigkeit. Diese Welt ist schön, sie verdient es, dass wir unser Bestes geben. Niemand ist nur gut und schlecht, Menschen sind komplexe Wesen, die manchmal in sich selbst, in ihren Ängsten und ihrem fehlgeleiteten Hass verloren gehen können. Doch was verloren geht, kann auch gefunden werden. Am Ende: Eine Liebeserklärung. An diese Welt und an Bücher, an das geschriebene Wort und an die Orte, die sie konservieren. Bücher überleben die Zeit, verbinden Menschen miteinander und erinnern, bezeugen, wirken gegen das Vergessen, stellen sich gegen die Vergänglichkeit, schenken Trost und Hoffnung.

»Die Welt ist genug, so wie sie ist.«




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Daten zum Buch
Titel: Wolkenkuckucksland
Autor*in: Anthony Doerrs
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Sprache: Deutsch
Verlag: C. H. Beck
Hardcover | 532 Seiten | ISBN: 978-3-406-77431-7

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