Rezension zu »Wir sitzen im Dickicht und weinen« von Felicitas Prokopetz

»Sie ist meine Mutter. Ich frage mich, was damit gesagt ist.«

Valeries Beziehung zu ihrer Mutter ist von komplexen, komplizierten und dysfunktionalen Beziehungsgeflechten durchzogen und alles andere als einfach. Ihre Beziehung funktioniert nur halbwegs auf einer Basis von Distanz und wenig gemeinsamer Zeit. Selbst Mutter, möchte sie die Fehler, die ihre Mutter an mir begangen hat, nicht wiederholen. Gleichzeitig macht auch sie Fehler im Umgang mit ihrem 16-jährigen Sohn, den sie zu sehr an sich binden will. Er jedoch möchte sich los lösen, zunehmend eigenständig sein und das nächste Schuljahr in England verbringen. Dann erhält Valeries Mutter die Diagnose Krebs. So findet sich Valerie in zwei existenziellen Konflikten wieder, die alles von ihr verlangen: Ihr Sohn, der Mittelpunkt ihres Lebens, möchte mehr Distanz zwischen sich und seine Mutter bringen und Valerie weiß nicht, wie los lassen. Die Krankheit ihrer Mutter wiederum macht die fragile Beziehung kaputt, in dem ihre Mutter Valeries Nähe, Zuneigung und Anwesenheit einfordert, Dinge, die Valerie nicht geben kann und möchte. Zwei Konflikte, denen Valerie nicht ausweichen kann und Konfrontationen nach sich ziehen, die beide lange überfällig waren und deren Wurzeln sich bis in die Kindheit von Valeries Großmüttern zurückverfolgen lassen.

»Kann es zwischen Eltern und Kindern so etwas wie Gerechtigkeit geben?«

Zu Beginn erfordert »Wir sitzen im Dickicht und weinen« ein wenig Arbeit von den Lesenden. Ohne beigelegten Stammbaum brauchte es (zumindest für mich) Konzentration und das ein oder andere Vor- und Zurückblättern, um die drei Generationen an Frauen umfassenden Familienzusammenhänge zu verstehen. Doch sobald dieses Verständnis da war, eröffnete sich mir beim Lesen ein eindringlicher, feinfühliger und facettenreicher Blick auf Mutterschaft und Tochtersein, Generationsunterschiede und -konflikte. Auf wenigen Seiten erschafft die Autorin eine dichte Familiengeschichte, die berührt und mitnimmt. »Wir sitzen im Dickicht und weinen« ist ein vielschichtiger Roman, der sich im Großen mit überlieferten Rollenbildern einer patriarchalen Gesellschaft auseinandersetzt, und im Kleinen der Macht tiefverwurzelter, generationsübergreifender anerlernter Verhaltensmuster innerhalb einer Familie auf den Grund geht. Wie beeinflussen die Erfahrungen, Eindrücke und Erziehungsmuster unserer Kindheit und Jugend die Art und Weise, wie wir als Erwachsene selbst Beziehungen führen, egal ob zu Partner*innen oder in unserem Umgang mit eigenen Kindern? Es ist eine Geschichte von Festhalten und Loslassen, von Schweigen und Reden, von emotionalen Wunden, Narben und Heilung, Liebe und Pflichtgefühl. Über Generationen hinweg verfolgen wir das Erleben von Frauen, ihren Wechsel von Tochter zu Mutter, dabei doch immer auch Tochter bleibend. Wie verändern sich die Rollenerwartungen an Frauen im Laufe eines Jahrhunderts und welche Konflikte treten dabei zu tage? Wie komplex ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und wie subjektiv ist unsere Wahrnehmung von uns selbst in den Beziehungen, die wir führen? Anhand von drei Generationen stellt die Autorin einfühlsam und differenziert die Frage, was Mutterschaft ausmacht, was Elternschaft darf und welche Forderungen Eltern an ihre Kinder stellen dürfen. Was schulden wir unseren Eltern? Wie viel rechtfertigt Liebe? An welchem Punkt dürfen und sollen wir zu unserem eigenen Schutz notwendige Grenzen ziehen? Wie frei können wir unsere eigene Geschichte schreiben? 




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Daten zum Buch
Titel: Wir sitzen im Dickicht und weinen
Autor*in: Felicitas Prokopetz
Sprache: Deutsch
Verlag: Eichborn
Hardcover | 208 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0161-7

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