Rezension zu »Marschlande« von Jarka Kubsova

»Es reichte, eine Frau zu sein, ein Mädchen, das reichte schon, um in Gefahr zu sein, eine Zielscheibe zu sein, erst recht, wenn man sich vorwagte, mit etwas herausragte, aus der Rolle fiel, die falschen Wege betrat oder zur falschen Zeit.«

Heute. Vor einiger Zeit ist Britta Stoever mit ihrem Mann Philipp und ihren beiden Teenager-Kindern von der Großstadt Hamburg in die Hamburger Marschlande an der Elbe gezogen. Das Haus, die Gegend entspricht Philipps Traum und seiner Vorstellung des Familienlebens. Doch weder Britta noch die Kinder fühlen sich bisher so richtig wohl. Besonders Britta fühlt sich noch immer fremd in dieser neuen Umgebung, sträubt sich dagegen, anzukommen, und lässt viele Umzugskartons wie sie sind. Und auch die Einheimischen meiden die Zugezogenen. Während Philipp in seinem Vollzeitjob noch Überstunden macht und die Kinder in der Schule sind, ist Britta allein, einsam und unterfordert. Auch ihr Teilzeitjob, einst wegen der guten Bezahlung und der Vereinbarkeit von Arbeit und Kindererziehung gewählt, befriedigt sie schon lange nicht. So streunt sie umher, lernt diese neue, raue Gegend kennen und trifft dabei wie durch Zufall auf die Spuren einer Frau, die fast 5 Jahrhunderte vor ihr ihren ganz eigenen Kampf mit den Marschlanden und dessen Einwohner*innen ausgefochten hat.

1580. Abelke Bleken ist eine Besonderheit in den Marschlanden. Sie ist nicht nur schön und klug, sondern hat nach dessen Tod den prächtigen Hof samt Hufnerhaus von ihrem Vater geerbt, den sie als unverheiratete Frau allein weiterführt. Sie tut dies mit großen Erfolg, ihr Land ist ertragreich, es geht ihr gut. Dennoch tratschen die Leute vor und hinter ihrem Rücken. Der Hof sei viel zu groß für eine alleinstehende Frau, die Ernte zu ertragreich dafür, dass der Hof von einer Frau geführt wird. Abelke gibt nichts auf das Gerede, schließlich kennt sie es nicht anders. So übersieht sie die Warnzeichen, die Missgunst und den Neid, den andere ihr entgegenbringen, förmlich auf eine Gelegenheit wartend, ihr wegzunehmen, was in ihren Augen keiner Frau zusteht: ein Hof, ein selbst bestimmtes Leben und Erfolg nur aufgrund von eigenem Geschick und Können. Als die Marschlande an Allerheiligen von einer Flutwelle heimgesucht werden, die katastrophalen Schaden an allen Höfen außer Abelkes anrichtet, die noch bis zuletzt alle vor der drohenden Gefahr gewarnt hat, sehen die Dorfbewohner*innen ihre Chance gekommen, Abelke büßen zu lassen. Schließlich kann dies alles nicht mit rechten Dingen zugehen.

Heute. Abelkes Geschichte rührt etwas in Britta und so macht sich auf die Suche nach Aufzeichnungen, die Licht in Dunkel von Abelkes Schicksal bringen. Nicht ahnend, wie viel sie dabei über sich selbst und ihr eigenes Leben erfahren wird.

»Es gibt mehr als genug Frauen, die Bedeutendes geleistet haben. Aber sie verschwinden, die Erinnerung an sie verblasst schneller als an die von Männern, weil die Archive und das Gedenken an sie löchrig sind.«

Zwei Frauen, Jahrhunderte zwischen ihnen, und doch auf gewisse Art verbunden. Anfangs hatte ich ein Schwierigkeiten, in Abelkes Geschichte hineinzufinden, wurde rausgerissen, durch die mit den Kapiteln wechselnden Zeiten. Das gab sich schnell. »Marschlande« erzählt zwei Geschichten, die auf gewisse Art doch eine sind. Eine Geschichte darüber, was es in verschiedenen Zeiten heißt, Frau zu sein. Ein Aufzeigen davon, dass sich Sexismus und Benachteiligung wie ein roter Faden durch die Zeit verfolgen lassen und kein Ende finden wollen. Brittas Geschichte ist die einer Frau, die einst ihre vielversprechende Universitätskarriere für ihre Kinder geopfert hat. Die Hausfrau, Ehefrau und Mutter wurde und an den Punkt angelangt ist, an dem eine Unzufriedenheit und innere Unruhe mit ihrer Situation überwiegt. Britta ist eine Frau, die einen Mann hat, der nicht sieht, dass sein eigener Erfolg und die Erfüllung seiner familiären wie beruflichen Träume von Brittas Verzicht ermöglicht wurde. Britta ist eine Frau, die, mit Kindern in einem Alter, die keine permanente Fürsorge mehr brauchen, sich erst wieder selbst kennenlernen und herausfinden muss, was sie möchte von ihrem Leben. Abelkes Geschichte ist die einer Frau, die ihrer Zeit voraus war. Entlang von historischen Fakten wird Abelkes Geschichte gezeichnet. Die Geschichte einer Frau, die stark war und selbst bestimmt, die Unrecht nicht übersehen konnte, die sich stark gemacht hat, wo es nötig war, und die sich nicht hat klein machen lassen. Und die genau dafür systematisch, mit allen Mitteln und unter allen nützlichen Vorwänden denunziert, ausgeschlossen und am Ende zerstört wurde. Abelkes Geschichte hat mich sehr berührt, schockiert, traurig und wütend gemacht. Wie viele Frauen ein ähnliches Schicksal traf. Weil sie mehr waren, als die Gesellschaft ihnen erlaubte zu sein. Weil sie Frauen waren. »Marschlande« zeigt den weiten Weg hin zum Wunsch nach Gleichberechtigung, der hinter uns liegt, und den weiten Weg, der noch vor uns liegt. Anhand zweier Frauen, deren Geschichten es wert sind, gehört zu werden. Weil viel zu viele weibliche Geschichten verloren gegangen sind und noch immer verloren gehen. 




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Daten zum Buch
Titel: Marschlande
Autor*in: Jarka Kubsova
Sprache: Deutsch
Verlag: S. Fischer
Hardcover | 320 Seiten | ISBN: 978-3-10-397496-6

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