Rezension zu »Shmutz« von Felicia Berliner

»Und so vergeht der Schabbes, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde ein Pendeln zwischen Selbsterkenntnis und Verleugnung, zwischen der Überzeugung, dass sie jederzeit aufhören kann, Pornos zu schauen, weil sie das genau jetzt tut, und der Verzweiflung, weil sie weiß, dass sie niemals aufhören können wird.«

Raizl ist eine junge Frau in New York City. Und Raizl ist eine junge, chassidische Jüdin. Als Angehötige einer ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinde und als jemand, der es, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, gestattet ist, einen Buchhaltungskurs am College zu belegen und in einer Buchhaltungsfirma zu arbeiten, lebt Raizl zwei getrennte Leben. Auf der einen Seite ist da diese große weite Welt, die ihr Angst macht, von der sie kaum bis nichts weiß und an deren Rändern sie maximal kratzt an ihrer Zeit im College. Auf der anderen Seite sind da Jahrhunderte alte jüdische Regeln und Traditionen, ein Leben, das ein wenig an das der Amish erinnert, keine Technik, den Körper bedeckende Kleidung, kein Kontakt zu Männern. Raizl Lebensweg liegt klar gezeichnet vor ihr, ihre Mutter steht schon in den Startlöchern, um die Matchmaker ihre Arbeit verrichten zu lassen, schließlich ist Raizl längst im heirats- und gebärfähigen Alter. Doch Raizl widerstrebt der Gedanke, einen ihr unbekannten, fremden Mann zu heiraten. Denn Raizl hat ein Geheimnis. Eigentlich verboten, ist es ihr für ihre Arbeit und das College gestattet, einen Laptop zu haben. Ein, wie Raizl schnell herausgefunden hat, nahezu magischer Schlüssel zu einer Welt, die ihre kühnsten Vorstellungen sprengt. Was als harmlose Google-Suche nach Gott begann, führte Klick um Klick um Klick tiefer in die digitale Welt und bescherte Raizl Video um Video um Video Pornos. Inzwischen ist Raizl süchtig, frönt ihrer Sucht Nacht um Nacht versteckt unter ihrer Bettdecke, lernt zahlreiche englische Bezeichnungen für Körperteile kennen, für die es in der jiddischen Sprache noch nicht mal ein Wort gibt. Lernt ihren Körper kennen, sieht Abstoßendes und Faszinierendes, fühlt Erregung und Orgasmen. Hin- und hergerissen zwischen Selbsthass und Neugier sucht Raizl regelmäßig die Therapeutin Dr. Podhoretz auf, die ihr bei ihrem Problem helfen und Raizl für die Ehevermittlung bereit und gesund machen soll. Doch kann sie Raizl helfen und will Raizl das in ihrem tiefsten Innern überhaupt? Denn wie soll sich Raizl auf ein langweiliges, unbefriedigendes Sexleben zum Zweck der Fortpflanzung einlassen, wo sie jetzt doch weiß, das der Rest der Welt hinter und vor der Kamera aus Lust so treibt? 

»Und würde ein Ehemann nicht bedeuten, das alles aufgeben zu müssen – die Lust, die sie bereits gefunden hat, wenn sie diese Bilder anschaut und ihren eigenen Körper entdeckt, dazu die nagende Gewissheit, dass es noch mehr gibt, was sie noch nicht gesehen hat?«

»Shmutz« ist ein faszinierendes Buch, humorvoll und ernst. Das Zitat von der New York Times auf dem Buchrücken beschreibt es eigentlich perfekt: »Eine dreckige Story mit einem reinen Herzen.« Das ist Raizl. Jung, naiv, ängstlich, weltfremd, aufgewachsen in einem restriktiven, abgeschotteten Umfeld, in einem Patriarchat, das Frauen auf die klassische Rolle als Ehe-, Hausfrauen und Mütter beschränkt. Und doch ist da in Raizl ein Funke, der zu einem lodernden Feuer wird. Da steckt Neugier in ihr, weibliche Lust und der Wunsch, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Begegnungen auf dem College mit Menschen ihres Alters aus ganz anderen Lebensumständen eröffnen ihr einen Blick auf ein Leben, das sein könnte. Besonders die unkonventionelle Sam wird ihr eine Freundin und herausfordernde Hilfe. Ihr Laptop lässt im übertragenen Sinne alle Hüllen fallen. Es ist eine Sucht, die sich bald auf Raizls Leben auswirkt, die Grenzen zwischen Realität und Gedankenwelt verschwimmen lässt und das fragile Gefüge aus ihrem traditionellem Zuhause und der modernen Welt, in der sie als Studentin und Arbeitnehmerin agiert, zum Wackeln bringt. Denn Raizl schläft nicht mehr, schaut jede Nacht stundenlang Pornos. Schaut sie wieder und wieder, analysiert, spult zurück, versucht die Aktionen und Reaktionen zu verstehen, nachzuvollziehen. Was gefällt wem und warum? Welche Bewegungen führen zu welchem Gefühl? Niemals kann und will sich Raizl von ihren Pornos trennen. Doch eigentlich sollte sie ihrer Bestimmung folgen und heiraten. Auch wenn das das Aus für College und Arbeit und somit auch den Zugang zum Internet bedeuten würde. Widerwillig begibt sich Raizl also auf Dates, die alle an der Banalität und der Unsicherheit im unbekannten Verhalten zwischen Mann und Frau scheitern und den gesellschaftlichen Konventionen scheitern. Was soll ich sagen? Ich habe so mitgefühlt mit Raizl, wollte ihr eine Freundin sein und ihr dabei helfen, ihren Weg zu finden und zu gehen. Doch Raizl musste da alleine durch. Strauchelnd, zweifelnd, sich manchmal selbst verachtend. Doch irgendwie, leise, angetrieben von etwas tief in ihrem Innern, ging Raizl ihren Weg. Es ist ein Weg, dessen Ende mir vielleicht ein wenig zu schnell ging und nicht ganz meinen Hoffnungen entsprach, aber es ist Raizls Weg. Und genau darum geht es: »Shmutz« ist eine Geschichte über das Entdecken und die Relevanz von Alternativen, darüber, herauszufinden, welchen Lebensentwurf man aus freien Stücken wählen möchte. Es ist eine Geschichte über einen Teil der Gesellschaft, über den ich nichts wusste und der mir fremd war, nicht zeitgemäß und misogyn, aber eben doch Religion und Tradition und Raizls Alltag. 

»Raizl, du sagst, du weißt nichts, aber du weißt alles. Vertrau mir. Du weißt alles, was du wissen musst. Um mehr solltest du nicht bitten. Dein choßn wird dich führen, und du wirst ihm folgen. Und darin liegt das Glück eurer Zukunft, die Freude, nach der ihr strebt.«

Ich habe »Shmutz« sehr gerne gelesen und Raizl auf ihrem Weg beobachtet. Ich habe etwas dazu gelernt und Verständnis gewonnen, dabei jedoch immer wunderbar unterhalten worden. Wenn ihr keine Probleme mit ausführlichen, detaillierten und plastischen Beschreibungen von pornografischen Sexszenen habt, möchte ich euch »Shmutz« wirklich ans Herz legen, denn ich bin mir sicher, Raizl wird sich auch einen Platz in euren Herzen erobern. 

» ›Zu kalt ist gut‹, entgegnet Sam. ›Genau wie zu heiß, zu sexy, zu laut. ›Zu viel‹ zeigt dir, dass du lebst.‹ «




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Daten zum Buch
Titel: Shmutz
Autor*in: Felicia Berliner
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Hanna Hesse
Verlag: Atlantik
Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-455-01625-3

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