Rezension zu »Milchbar« von Szilvia Molnar

»Ich sitze nicht einsam an meinem Schreibtisch, sondern stehe inmitten von vier Wänden, ich halte das Baby und halte das alles kaum aus. Vor mir ist es schon anderen Frauen so ergangen, und nichts hat sich geändert. Und es wird auch nach mir Frauen so ergehen. Vielleicht ändert sich das nie.«

Eben war sie noch Übersetzerin, jetzt ist sie Mutter. Eben noch verband sie mit ihrem Mann traute, glückliche, zufriedene Zweisamkeit, jetzt ist da ein kleines Wesen, das alle Aufmerksamkeit, Nähe und Liebe für sich beansprucht und sich in diese Zweisamkeit drängt, sie zerstört. Die namenlose Frau versucht sich zurecht zu finden in ihrer neuen Realität, versucht, die neuen Regeln zu verstehen, anhand derer ihr Leben nun zu funktionieren scheint. Ihre Tochter fordert alles von ihr ein und dabei wäre sie es doch, die etwas bräuchte. Ruhe, Schlaf und Zeit, die physischen und psychischen Wunden heilen zu lassen, die die Geburt an ihrer Seele und auf ihrem Körper hinterlassen hat. Während ihr Mann bereits kurz nach der Geburt wieder zur Arbeit geht, schließlich verdient er ja mehr (eine kleine Nebenbemerkung, die doch wieder zeigt, wie die Gender Pay Gap weiterhin dafür sorgt, die Frau Zuhause zu halten und in die klassische Mutterrolle zu zwängen) ist sie Stunde um Stunde, Tag um Tag allein mit diesem kleinen, hilfsbedürftigen, lauten Menschlein, das keine Grenzen kennt. Wie kann sie sicher gehen, dass es ihrer Tochter an nichts fehlt? Könnte sie ihrer Tochter etwas antun? Dann wäre da Ruhe, endlich, Erleichterung. Aber auch Verzweiflung, Panik und Selbsthass. Im Wochenbett, geflutet von Hormonen, unkontrolliert auslaufenden Körperöffnungen und akutem Schlafmangel verschwinden die Grenzen. Verunsichert, überfordert bleibt sie in den hoffentlich sicheren vier Wänden. Nur der Nachbar in der Wohnung über ihr, gestört vom Geschrei des Babys, besucht sie hin und wieder. Sie sitzen beieinander, zwei verlorene Seelen. Sie, die versucht Mutter zu sein, er, der um seine kürzlich verstorbene Frau trauert. Eine eigenwillige Art der Freundschaft entsteht, die keine Worte braucht und aus gegenseitigem Dasein besteht. Ihr Mann findet es seltsam, aber sie ist zu müde, um zu erklären. 

»Sie zwingt mich, weiterzumachen. Also mache ich weiter. Ich muss. Aber woher nimmst du noch mehr, wenn du schon alles gegeben hast?«

In beeindruckender Intensität lässt uns Szilvia Molnar teilhaben an einer möglichen Realität einer Mutter nach den ersten Wochen einer Geburt, erzählt von postpartaler Depression und diesem fragilen Gefüge aus Frau- und Muttersein. Es ist ein Aufgehen in dem Wunsch, die Mutter zu sein, die sie sein will, die ihr Kind ihrer Meinung nach verdient. Beschützerin, Lebensgeberin, Dreh- und Angelpunkt. Es ist ein Verlorengehen in ihrer Rolle als Mutter, Angst, Schlafmangel, Reizüberflutung, körperliche Schmerzen, seelische Erschöpfung und grenzenlose Überforderung. Gleichzeitig die Erinnerung in ihr, dass sie einst, vor unendlich langer Zeit, einmal eine Frau gewesen sein muss. Eine Frau, die ein erfülltes Leben hatte. Eine sie erfüllende Arbeit, soziale Kontakte, ein gesundes Sexleben. Wie weit weg all dies wirkt. Wie erstrebenswert und viel zu viel. Ob sie zurück kann? Wie gut Schlaf tun würde. Eine Umgebung, die sie mental fordern würde, der einst kluge Teil ihrer Selbst ist unterfordert. Gleichzeitig frisst es alle noch verbliebene Energie, daran zu scheitern, herauszufinden, was ihre Tochter braucht, um endlich und doch nur einmal mit dem Schreien aufzuhören. Was würde sie geben für Stille. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, ein Auf und Ab, ein Hin- und Herschwanken zwischen Extremen. Hässlich, ehrlich, unbequem nah und plastisch. »Milchbar« bricht die Grenzen, lässt uns zu unmittelbaren Zeug*innen werden, reißt uns mit hinab in diese Wirrwarr der Gefühle, entführt uns in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Gedanken verschwimmen, die Tage sich auflösen zu einem einzigen Strom und Zeit nicht mehr stringent fließen kann, wir springen vor und zurück, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Molnar schafft es, uns diese überbordenden und widersprüchlichen Gefühle spürbar zu machen und zeigt uns, dass Mutterschaft besonders in den ersten Wochen zugleich wunderschön und abgrundtief hässlich sein kann.




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Daten zum Buch
Titel: Milchbar
Autor*in: Szilvia Molnar
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Wolf
Verlag: Blumenbar
Hardcover | 240 Seiten | ISBN: 978-3-351-05106-8

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