Rezension zu »Die Resonanzen« von Helga Flatland

Das Leben der Vertretungslehrerin Mathilde gerät gewaltig aus den Fugen, als deren Affäre mit einem ihrer Schüler ans Licht kommt. Sie verliert ihren Job, die Orientierung und schließlich auch ihren Liebhaber, als sich Jakob nach seinem Schulabschluss von ihr abwendet. Oslo ist plötzlich zu klein und stickig geworden, Erinnerungen lauern an allen Ecken und drohen, sie zu erdrücken. Mathilde, die bisher von einer ungesunden Beziehung in die nächste gefallen ist, beschließt, Oslo für unbestimmte Zeit hinter sich zu lassen und mietet ein altes Bauernhaus in der Telemark, der norwegischen Provinz. Auf der Suche nach Einfachheit, einer Rückkehr zur Natur und dem eigenen Selbst. Das bäuerliche Leben fernab der Großstadthektik entspricht genau der Vorstellung, die eine Großstädterin von der Abgeschiedenheit der Provinz hat. Der Hof, auf dem sie die nächste Zeit verbringen wird, wird von Johs und dessen Bruder Andres betrieben, eine Molkwirtschaft, die sich seit über 400 Jahren im Familienbetrieb befindet. Die Familie scheint auf den ersten Blick ein Abbild traditionellen Landlebens zu sein: der stille Johs, der mit starkem Dialekt spricht und seiner Liebe für norwegische Volksmusik auf der Fidel Ausdruck verleiht. Sein Bruder Andres, der den Hof einst für die große weite Welt verließ und zurückkehrte, um sich in seinen begrenzten Lebensraum zurückzuziehen und zu isolieren. Dessen Frau und Kinder, die versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Schließlich Johs' und Andres' Mutter, inzwischen Witwe und im Ruhestand und doch nicht dazu in der Lage, die Zügel aus der Hand zu geben und sich wann immer möglich in die Hofangelegenheiten einmischt. Mathilde spürt, dass sie nicht in dieses fragile Gefüge passt und zieht sich zurück. Doch wirkliche Einsamkeit ist kaum möglich in der engen Weite des Hofs, besonders nicht für eine alleinstehende Frau. 

In »Die Resonanzen« prallen Welten aufeinander: Tradition und Wandel, Weiblichkeit und Männlichkeit, Jugend und Alter, Verlangen und Verpflichtung. In abwechselnden Kapiteln erzählen Mathilde und Johs ihre Geschichten, dabei sprachlich auf faszinierende Art von einander getrennt. Zwischen den Zeilen dieses Romans steckt eine Menge, wenn man sich die Mühe macht, zuzuhören. Obwohl beide keine richtigen Sympathieträger*innen sind, habe ich mehr und mehr Sympathien entwickelt. Weil beide ungefiltert sind und authentisch. Mathilde ist eine Frau, die nie gelernt hat, gesunde Beziehungen zu führen und ihr toxisches Muster von Mal zu Mal fortführt, dabei immer Chaos hinterlassend. Sie ist zu laut, direkt und selbst bestimmt für diesen Part der Welt und löst auf dem Hof mehr als eine Missstimmung aus. Sie lebt nach ihren eigenen Regeln, verfolgt eine ganz eigenwillige Moral, die aneckt, impulsgetrieben und losgelöst ist von gesellschaftlichen Konventionen. Es ist genau das, das Johs an ihr fasziniert und fürchtet zugleich. Johs, der immer getan hat, was von ihm erwartet wurde. Der groß wurde unter einem alkoholkranken, jähzornigen Vater, der sich als Patriarch sah und dem sich alle unterzuordnen hatten. Johs, der klein gehalten wurde und sich noch immer klein fühlt. Der Zuflucht sucht in seiner Fidelmusik, norwegischen Sagas und der Fidelnachhilfe, die er einem einsamen Jungen gibt. Denn unter der rauen Fassade schlummert in Johs eine verletzliche Seele, die sich nach Zuneigung und Bestätigung sehnt. Es ist die Geschichte einer Familie, in der Kälte und Schweigen von Generation zu Generation weitergegeben wurden, in der Angst und Scham Liebe ersetzten. Es ist die Geschichte des Bauerntums, im Wandel begriffen. Es finden sich leise Töne von Gesellschaftskritik zwischen den Seiten und Zeilen, klassische (Rollen-)Erwartungen werden Stück für Stück entmantelt und es entsteht etwas Neues, das losgelöst von Moral versucht, zu existieren. Doch am Ende scheint eine ungesettelte, eigensinnige Frau doch eine Störung der Ordnung zu bleiben. Es ist eine Geschichte, in deren Ende all die Widersprüche verschwimmen und Raum lässt für Interpretationen, Gedanken, Abgründe. Es ist eine Geschichte, die von Zwischentönen lebt.

»Sagen sind ja bloß Umschreibungen. [...] Von unbeschreiblicher Unmoral, ungehorsamen Frauen, die bestraft werden müssen. Über Generationen von Männern an Männer überliefert. Die Sagas erzählen von geheimnisvollen oder dramatischen Verschwinden dieser Frauen, wenn sie in Wirklichkeit sicher entweder umgebracht worden sind oder sich umgebracht haben.«




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Daten zum Buch
Titel: Die Resonanzen
Autor*in: Helga Flatland
Sprache: Deutsch
Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger und Elke Ranzinger
Verlag: Ecco
Hardcover | 352 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0088-6

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