Rezension zu »Nightbitch« von Rachel Yoder

»Wie sie herausgefunden hatte, konnte man eine Mutter an diesem Blick erkennen, aus dem nicht nur Langeweile und Erschöpfung sprach, sondern noch etwas anderes. Es war, als suchten die Mütter in der Ferne etwas, das sie verloren hatten, woran sie sich aber nicht mehr erinnern konnten.«

Die namenlose Protagonistin hatte alles, was sie sich je gewünscht hat: persönliche Entfaltung in ihrer Kunst und einen Job als Galeristin, zwar schlecht bezahlt, aber immerhin bezahl und erfüllend, ihr wahrgewordener Lebenstraum. Bis vor zwei Jahren ihr Sohn zur Welt kam. Trotz aller Versuche und Mühen scheiterte das Nebeneinander von Berufstätigkeit und Mutterschaft. Inzwischen lebt sie das Leben einer Vollzeitmutter. Schließlich verdient ihr Mann besser als sie und ein Kind braucht seine Mutter. Anstelle von Vernissagen, intellektuellen Gesprächen über Kunst und das Ausleben der eigenen Kreativität besteht ihr Alltag seit Jahren aus Überforderung und Eintönigkeit, vollen Windeln, Haushalt und den Launen eines Kleinkinds. Während ihr Mann unter der Woche auf Geschäftsreise ist und sich in seiner Rolle als Wochenendvater wohl fühlt, fragt niemand, wie es der Mutter geht. Als sie zum gefühlt unendlichsten Mal vom manischen Schreien ihres Sohnes wach wird, während ihr Mann neben ihr zufrieden schläft, platzt etwas in ihr, eine lang unterdrückte, alles verschlingende Wut verschafft sich Raum. Sie stellt sich schlafend, lässt ihren Sohn schreien, irgendwann schreit sie zurück, bis ihr Mann erwacht und den Sohn in die Arme nimmt. Am nächsten Morgen sagt ihr Mann, sie habe sich in der Nacht wie eine richtige Bitch verhalten. Bitch im Sinne von Hündin oder Miststück, fragt die Mutter. Letzteres, erwidert der Mann. »Ich bin Nightbitch«, sagt die Mutter. Beide lachen, doch das Lachen der Mutter ist nicht echt. In den nächsten Tage, Wochen, Monaten stellt die Frau Veränderung an sich fest: Ihr wachsen Haarbüschel im Nacken, ihre Eckzähne fühlen sich spitzer an, am unterem Rücken scheint sich etwas herauszubilden, dass sich fast als Schwanz bezeichnen ließe. Langsam, aber unaufhörlich bricht sich die jahrelang unterdrückte Wut und Verzweiflung Bahn, kehrt ihr hässlichstes Innerstes nach außen. Eine Transformation von der Mutter zur Nightbitch.

»Sie wollte zu der jungen Frau sagen: Es ist kompliziert. Ich bin jetzt ein Mensch, der ich nie sein wollte, und ich weiß immer noch nicht, wie ich damit zurechtkommen soll. [...] Stattdessen lächelte sie und sagte: Ja, es ist toll. Ich liebe es, Mutter zu sein.«

Es gibt Bücher, die sind so anders, besonders, dass sie jeden Rahmen sprengen. Ich weiß nicht, ob ich diesen Roman im Vergleich mit anderen Büchern bewerten kann. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich die richtigen Worte, die diesen Roman beschreiben. Aber ich will es versuchen, weil ich noch nie ein Buch gelesen habe, das mich gleichzeitig so überfordert und gefesselt zurückgelassen hat. Zu keinem Zeitpunkt während oder nach der Lektüre wusste ich, ob ich dieses Buch mag, ob das, was ich da lese, das abstrus Gestörteste oder mit Abstand Genialste ist, das ich je gelesen habe. Ich weiß es noch immer nicht, aber – die letzten 10 Seiten ausgenommen, die nicht hätten sein müssen und die obsessive Magie des Gelesenen leider verringert haben – inzwischen tendiere ich sehr stark zu letzterem. Also, here it goes, versuchen wir's:

Es ist kein Wunder, dass die Protagonistin namenlos bleibt. Denn sie, die Mutter, Frau, Nightbitch ist nur ein Symptom, ein Abbild, ein Sinnbild. Ein Kern Wahrheit, der durch Surrealismus und magischen Realismus zu einer modernen Sage, einer Fabel wird. Über moderne Mutterschaft, Weiblichkeit und die engen, erdrückenden, einschneidenden Fesseln weiblicher und mütterlicher Rollenerwartungen, aus denen die Protagonistin nur ausbrechen kann, in dem sie aufhört, Mutter und Frau zu sein, zu etwas anderem, Unmenschlichem, zu Nightbitch, wird. Damit wird »Nightbitch« zu hochgradig gesellschaftskritischer Gegenwartsliteratur. 

»Nightbitch« schildert einen brutalen Befreiungsakt aus einem Leben, das nicht mehr das der Frau ist, das durch die Mutterschaft zu einem Allgemein gut wurde. Einst eine Frau, nun reduziert auf ihre Rolle als Mutter, der Kritik und Meinungen anderer ausgesetzt und eben nur noch das: eine Mutter. Zufriedenheit, Erfüllung und Mutterglück werden von ihr erwartet. Die Wahrheit ihrer Gefühls- und Gedankenwelt will niemand hören. Sie wird zu einem Nichts, wird unsichtbar und eine Hülle für die Bedürfnisse eines anderen Lebewesens. Doch sie kann Nightbitch sein. Kann ein Schattenleben führen, in dem ihre Urinstinkte und Wildheit, ihre Fleischeslust und Bedürfnisbefriedigung, ihr Egoismus alles sind, das zählt. Reduziert auf ein Tier wird sie wieder sichtbar, wird zu einer Naturgewalt. »Nightbitch« ist eine Geschichte von Polaritäten und Extremen: Intellekt vs. Instinkt, Weiblichkeit vs. Mutterschaft, Überforderung als Mutter vs. Unterforderung als Frau, Natur vs. Sehnsucht, Mutterliebe vs. Selbstliebe, Zuneigung vs. Gewalt, Hässlichkeit vs. Schönheit, Kontrollverlust vs. Kontrollgewinn, Zärtlichkeit vs. Wut. So viel Wut. 

»Manchmal habe ich den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Normen, die Geschlechterrollen und die stumpfe Biologie mich zu dieser Person gemacht haben, trotzdem kann ich immer noch nicht ganz verstehen, wie es so weit kommen konnte. Ich bin ständig wütend.«

Zwischen dem Surrealen, Mystischen, Magischen der Transformation findet sich die zentrale Message des Geschriebenen. Man muss nur bereit dazu sein, zuzuhören. Sich einlassen auf dieses gewagte, animalische, intensive und obsessive Kunstwerk, auf dieses feministische, rohe und düstere Performancestück. Vielleicht geht es euch dann wie mir nach dem Lesen von »Nightbitch«: Verwirrung, Faszination, und in mir, irgendwo, an dem Ort, an dem sich meine Wut befindet: Verstehen. 




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Daten zum Buch
Titel: Nightbitch
Autor*in: Rachel Yoder
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné
Verlag: Klett Cotta
Hardcover | 304 Seiten | ISBN: 978-3-608-98687-7

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