Rezension zu »Mittsommertage« von Ulrich Woelk

»Ich will nicht mehr die sein, zu der ich mich gemacht habe. Nicht jetzt. Nicht in diesem Moment. Ich bin mir selbst zu eng.«

Im Berliner Sommer 2022 verläuft das Leben der Ethikprofessorin Ruth Lember in den genau richtigen Bahnen: Die Corona-Regeln wurden gelockert und erlauben eine Rückkehr in ein fast normales Leben und sie steht kurz vor dem Highlight ihrer beruflichen Laufbahn, die Berufung in den Deutschen Ethikrat. Auch ihre Familie ist auf dem Höhenflug: Ihr Mann Ben gewinnt einen begehrten Architekturwettbewerb und ihre Stieftochter Jenny hat das elterliche Nest für ihr Studium in Leipzig verlassen. Nicht einmal der Biss eines freilaufenden Hundes während der montäglichen Morgenjoggingrunde kann dieses greifbare Glück trüben. Doch die von Ruth im Trubel der sich überhäufenden guten Neuigkeiten ignorierte Wunde schwelt weiter und soll bald der Auslöser für eine ungeahnte Aneinanderreihung unglücklicher Ereignisse werden. So steht plötzlich ihre Vergangenheit in Gestalt eines Mannes vor ihr und ruft in ihr nicht nur Erinnerungen an die einstige Liebe zu diesem Mann wach, sondern auch Erinnerungen an ein Kapitel in ihrer Jugend, von dem sonst niemand weiß und dessen Bekanntwerden ihr gesamtes aufgebautes Leben zum Einsturz bringen könnte.

»Mittsommertage« ist ein Roman voller tagespolitischer Themen und persönlicher Herausforderungen – ruhig, unaufgeregt und mitfühlend erzählt. Im Zentrum steht Ruth und deren Gefühle und Gedanken. Als Professorin für Umweltethik beschäftigt sie sich in Zeiten von Klimakatastrophe, Tierwohl, »Fridays for Future« und »Die letzte Generation« mit den gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Durch ihre jungen, motivierten Studierenden bleibt sie am Puls der Zeit, mehr als Ben, der kaum Verständnis für den Aktivismus und Aktionismus der jüngeren Generation aufbringen kann und im Gespräch mit seiner Tochter Jenny oft auf Konflikte stößt, während Jenny bei Ruth eine neutrale, verständnisvolle Ansprechpartnerin findet. Doch die Ereignisse einer einzigen Woche und die wachgewordenen Erinnerungen an ihre Vergangenheit und Jugend bringen für Ruth alles durcheinander. Zunehmend stellt Ruth ihr Leben und ihre bisherigen Lebensentscheidungen in Frage. Ist ihre Ehe wirklich ein liebevolles Miteinander oder doch nur noch ein bloßes Nebeneinander aus Gewohnheit? Hätte sie eigene Kinder bekommen sollen, als sie noch dazu in der Lage war? Hat sie irgendwo auf den geplanten, unaufgeregten Jahren ihres Lebens ihre Ideale hinter sich gelassen oder gar verraten? Was wurde aus der einst so engagierten jungen Frau, die – notfalls auch unter drastischen Maßnahmen – für das Richtige kämpfen wollte?

Emotional und gedanklich nachvollziehbar und auf leise Weise mitreißend erzählt »Mittsommertage« von dem Leben einer Frau, von einer Woche im September, von  Moral und Schuld, berichtet von Grenzüberschreitungen, dem Älterwerden und Veränderungen und stellt die mutige, vielleicht unangenehme aber wichtige Frage danach, ob wir die Menschen geworden sind, die wir immer sein wollten, oder ob wir uns mit Weniger zufrieden geben – egal ob aus Angst oder Bequemlichkeit.

Wäre dein junges Ich voller Träume, Hoffnungen und Tatendrang stolz auf dich, würde es dich heute treffen?




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Daten zum Buch
Titel: Mittsommertage
Autor*in: Ulrich Woelk
Sprache: Deutsch
Verlag: C. H. Beck
Hardcover | 285 Seiten | ISBN: 978-3-406-80652-0

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