Rezension zu »Höllenkalt« von Lilja Sigurdardóttir

Áróra Jónsdóttir lebt in London und führt als erfolgreiche Ermittlerin im Bereich Wirtschaftskriminalität ein gutes Leben. Ihr Privatleben hingegen verläuft weniger erfolgreich, Beziehungen zu anderen Menschen geht sie selten und oberflächlich ein. Auch zu ihrer Mutter und Schwester hat Áróra kaum noch Kontakt. Aufgewachsen in England, kehrte die Familie nach dem Tod des Vaters nach Island zurück. Während ihre Schwester Ísafold sich dort ein neues Leben aufbauten, fühlte sich Áróra stets eingeengt von Islands Dunkelheit und Beengtheit und flüchtete als Erwachsene so schnell wie möglich zurück ins große, weite, unpersönliche London. Nach Jahren der Abwesenheit muss Áróra auf Bitten ihrer Mutter nun zurückkehren nach Island. Denn Ísafold hat sich seit Längerem nicht mehr bei ihrer Mutter gemeldet, untypisch für die eigentlich enge Mutter-Tochter-Beziehung. Und auch in den Sozialen Medien bleibt es seit geraumer Zeit ruhig um Ísafold. In Reykjavík macht sich Áróra auf die Suche nach Ísafold und fühlt Ísafolds unsympathischem und zwielichtigen Lebenspartner Björn auf den Zahn, der nicht nur verantwortlich für den abgebrochenen Kontakt der Schwestern, sondern für Áróra auch höchst verdächtig ist. Sie befragt die Nachbar*innen der beiden, unter anderem Olga, die etwas zu verbergen hat, und den seltsamen Grímur, dessen Beziehung zu Ísafold unklar bleibt. Hilfe erhält sie schließlich von Daníel, einem Freund der Familie und Polizist. Je tiefer die beiden in Ísafolds Leben eintauchen, desto mehr Fragen und Ungereimtheiten türmen sich auf. Bis der sich der drückende Verdacht nicht mehr leugnen lässt: Wurde Ísafold das Opfer eines furchtbaren Verbrechens? 

Vom ersten Moment an hatte mich »Höllenkalt«. Im Laufe des Krimis wurde sein Griff fester, fesselte mich bis zum Ende. Auf seine ganz eigene, unaufgeregte, ruhige und doch spannende Art. »Höllenkalt« überzeugt durch eine atmosphärische Grundstimmung, eine gewisse Dunkelheit, die immer über dem Geschehen liegt und sich so anfühlt, wie ich mir den Winter in Island vorstelle, und durch eine wirklich ausgezeichnete Charakterzeichnung der Figuren. Áróra ist eine vielschichtige, facettenreiche Frau, die sich auf der Suche nach der Wahrheit um den Verbleib ihrer Schwester ihren ganz eigenen Dämonen stellen muss. Gezwungen, an dem Ort zu sein, vor dem sie vor langer Zeit geflohen ist, hinterlässt es Spuren in ihrer Psyche, bringt lange verdrängte Erinnerungen ans Licht. Sie muss sich ihrer Kindheit stellen, immer hin- und hergerissen zwischen den beiden Kulturen ihrer Eltern, England und Island, und dem Gefühl, zu keiner der beiden wirklich zugehörig zu sein. Muss sich der komplizierten Beziehung zu ihrer Schwester stellen, um im Hier und Jetzt nach ihr suchen zu können und eigenen Frieden zu finden. Auch die Nebenfiguren sind tief ausgearbeitet, immer wieder wechselt die Perspektive zwischen Áróra, Daníel, Grímur und Olga. Langsam, bedächtig und doch fesselnd zeichnet sich so ein Bild ab. Nicht nur von Ísafolds Verschwinden, sondern von den vielen Leben, die mit ihrem in Berührung kamen und die Geheimnisse, die jede*r zu verbergen sucht. So nimmt die Handlung zunehmend an Fahrt auf, verdichtet sich und überrascht am Ende mit einem Ausgang, den ich wirklich nicht erwartet habe. 

Atmosphärisch, psychologisch und fesselnd hat mich dieser Reihenauftakt in seinen Bann gezogen, mich die Kälte Islands fühlen und tief in die Seelen der Figuren blicken lassen und jede Menge Neugier darauf geweckt, wie die Geschichte weiter geht.




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Daten zum Buch
Titel: Höllenkalt
Autor*in: Lilja Sigurdardóttir
Sprache: Deutsch
Aus dem Isländischen übersetzt von Betty Wahl
Verlag: DuMont
Taschenbuch | 368 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6689-2

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