Rezension zu »An einem Tisch« von Bryan Washington

»Manchmal ist für einander da zu sein, das Beste, was wir tun können, sagt sie. Es genügt. Selbst wenn es nicht so aussieht.«

Für den Ende 20-jährigen Cam ist das Leben stehen geblieben, als er seine große Liebe Kai auf tragische Weise verloren hat. Seitdem ist nichts mehr, wie es war, und Cam schottet sich ab. Gegen andere Menschen und jegliche Zuneigung. Als er es Zuhause nicht mehr aushält, lässt er von jetzt auf gleich alles hinter sich und zieht zu Bekannten, zurück in seine Heimat nach Houston. Doch die Distanz mindert den Verlust nicht. Durch jede Menge Alkohol, Drogen und Sex versucht sich Cam zu betäuben. Er bestraft sich, indem er nichts mehr isst, denn er fühlt sich verantwortlich für seinen Verlust. Bestraft sich, in dem er alles trinkt, das trinkbar ist, bis zur Besinnungslosigkeit. Bestraft sich, indem er alles nimmt, das er finden, schnupfen, spritzen, rauchen kann. Bestraft sich, indem er jeden fickt, der Interesse zeigt, dubiose Internetbekanntschaften, ohne Verhütung. Exzess, Eigengefährdung. Alles. Hauptsache der Schmerz verschwindet für einen Moment. In diesem selbstzerstörerischem Sog, der unweigerlich auf einen Tiefpunkt zusteuern muss, ist es sein Jugendfreund TJ, der unaufhörlich versucht, Cam wieder ins Leben zurück zu holen, egal, wie oft er abgewiesen wird. TJ und seine Mutter, seit vielen Jahren von Cam entfremdet, waren einst Cams Familie und geben ihm die Möglichkeit, es wieder zu sein. Binden ihn ein ins Familiengeschäft, eine kleine, aber erfolgreiche Bäckerei, und bieten Cam den Halt, den er so dringend braucht und von dem er doch nicht glaubt, ihn zu verdienen. Ganz langsam findet Cam einen Weg aus der Dunkelheit, kocht sich zurück ins Leben und bewältigt nicht nur den Verlust seines Partners, sondern setzt sich auch mit den Wunden seiner Jugend und der schwierigen Beziehung zu TJ auseinander.

»An einem Tisch« hat mich aufrichtig und ehrlich berührt. Ich habe den allergrößten Respekt vor Autor*innen, die es schaffen, über Schmerz so unfassbar nah und fühlbar zu schreiben. Dieser Roman ist genau das, was ich an der aktuellen jungen Literatur liebe: Er ist ungeschönt, direkt, ehrlich, auf ganz eigene Art anders, hässlich, liebevoll und so, so nah am Leben. Cams Leid war so spürbar für mich, verstärkt durch die Direktheit der Sprache. Nein, »An einem Tisch« beschönigt nichts. Wir tauchen tief ein in Cams zerrissene Seele, in hemmungslosen, unvorsichtigen Gelegenheitssex mit Fremden, in unzählige Highs und all die besinnungslosen Besäufnisse. Es ist Selbstzerstörung vom Feinsten, effektiv, obsessiv, vernichtend. Und doch ist da Hoffnung. In der Gestalt von TJ, dessen Innenleben wir im späteren Verlauf kennenlernen. TJ, der ganz eigene Probleme hat, sich noch immer schwer tut mit der eigenen Sexualität und der doch die Kraft findet, die Rettung zu sein, die Cam braucht. Es ist eine Geschichte über Freundschaft und die Familie, die wir uns suchen. Über Verluste und Neuanfänge, über die Kraft der Liebe, das Schöne und das Hässliche, das sie bereit hält. Über Coming Outs, sexuelle Identitäten und die Kraft, die es kostet, herauszufinden, wer man sein will, und sein Leben dementsprechend zu führen. »An einem Tisch« zeigt, dass Wunden Zeit zum Heilen brauchen, und wie wichtig es ist, dass wir für die Menschen in unserem Leben da sind, wenn sie leiden. Es ist voller Gefühl und Echtheit. Ich bin froh, es gelesen zu haben. 




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Daten zum Buch
Titel: An einem Tisch
Autor*in: Bryan Washington
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Verlag: Kein & Aber
Hardcover | 304 Seiten | ISBN: 978-3-0369-5017-4

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