Rezension zu »Der Kaninchenstall« von Tess Gunty

Im fiktiven Vacca Vale in Indiana, USA entwickeln sich die Dinge seit geraumer Zeit nicht gerade zum Besten. Die glorreiche Zeit des Ortes ist schon Jahrzehnte vorbei, damals, als der Autohersteller Zorn für Wohlstand und Bekanntheit des Ortes sorgte. Doch aufgeben will man ihn nicht, diesen Ort. Die Umwandlung der ehemaligen Industrieanlagen in ein Start-Up-Hub (samt Abholzung der umgebenden Wälder) soll für die Revitalisierung des gesamten Ortes sorgen und Vacca Vale zu altem Glanz verhelfen. Pläne, die die Bewohner*innen des örtlichen Sozialwohnungskomplexes – auch »Der Kaninchenstall« genannt –, kaum erreichen. Die Menschen dort leben in ihrer ganz eigenen Welt. Eine von ihnen ist die 18-jährige Blandine, ein ehemaliges Kind des Pflegesystems, Schulabbrecherin, besessen von Mystikerinnen – allen voran Hildegard von Bingen – und Dreh- und Angelpunkt ihrer drei Mitbewohner, die allesamt unglücklich verliebt in sie sind. Blandine ist sich nicht so ganz sicher, ob sie nun menschliche Kontakte will oder nicht. Sie lebt zurückgezogen und für sich allein und spricht doch gern Fremde an, um ihr Wissen über Mystikerinnen ungefragt mit ihnen zu teilen, zum Beispiel mit Joan, ebenfalls Bewohnerin des Kaninchenstalls und Online-Nachrufschreiberin, die sich aktuell mit den Nachrufen zum Tod einer ehemaligen Kinderstar-Schauspielerin und deren unfreundlichen  Sohn Moses rumschlafen muss. Die Familie in Wohnung C8 hat aktuell ganz andere Probleme: Der erste Nachwuchs ist noch nicht lange auf der Welt, was zu absoluter Überforderung der jungen Mutter führt – ein Umstand, den sie vor sich und ihrem Mann zu leugnen versucht. All jene Charaktere und noch so einige weitere Bewohner*innen des Kaninchenstalls versuchen mehr oder weniger erfolgreich, ihren Alltag zu meistern. Ihre Lebenswege kreuzen sich dabei immer wieder auf unvorhergesehene, originelle Art und Weise und treiben die Handlung voran.

Würdet ihr mich fragen, wovon »Der Kaninchenstall« handelt, wäre meine Antwort so einfach wie verwirrend: Es geht um alles und es geht um nichts. Wir nehmen uns selbst zu wichtig, wir nehmen uns selbst nicht wichtig genug. So vielfältig die handelnden Figuren sind, so vielfältig sind die Themen, so abwechslungsreich sind die Handlungsstränge. Dieser Roman ist ein Spiel mit literarischen Grenzen und Möglichkeiten, ein Brechen von literarischen Regeln. Er ist chaotisch, überbordend, überfordernd, mal ruhig, eindringlich und komplex, mal laut und schrill und viel zu schnell. Mal Gegenwart, mal Vergangenheit, mal irgendwo dazwischen. Dieser Roman ist wild und ungestüm, bietet im nächsten Moment jedoch auch emotionale und psychologische Tiefe und Ernsthaftigkeit. Er bietet ein rasantes, teilweise psychedelisch anmutendes Leseerlebnis, Abwechslung, Höhenflüge und Abstürze, Verwirrung und kleine, feine, wunderbare Momente, in denen sich so viele lose Blätter zusammenfügen und einen Blick auf ein großes Ganzes gewähren, das Brummen und Summen aufhört und das Chaos und Hässlichkeit zu Klarheit und Schönheit wird. »Der Kaninchenstall« ist nicht greifbar und will es nicht sein. Will nicht gefallen, sondern einfach nur sein. Ein faszinierender Roman, ein Konstrukt und ein Gesamtkunstwerk, einzigartig, jung, unkonventionell und so bunt und vielfältig wie das Leben. Was für ein Romandebüt!




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Daten zum Buch
Titel: Der Kaninchenstall
Autor*in: Tess Gunty
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Hardcover | 416 Seiten | ISBN: 978-3-462-00300-0

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