Rezension zu »Das Seidenraupenzimmer« von Sayaka Murata

»Und ich hatte in dieser Siedlung zwei Aufgaben. Erstens, mich anzustrengen, in jeder Hinsicht ein funktionierendes Werkzeug zu sein. Zweitens, mich als Mädchen anzustrengen, ein funktionierendes Fortpflanzungsorgan für diese Siedlung zu werden. Allerdings rechnete ich damit, in beiden Punkten zu versagen.«

Jedes Jahr zum Ahnenfest Odon trifft sich Natsukis Familie im Haus ihrer Großeltern in den Bergen von Akishina, fernab von Tokio, fernab von moderner Zivilisation und dem Regelwerk dieser durchgetakteten, auf Erfüllung von Rollenerwartung ausgelegten Welt. Für Natsuki, die Zuhause besonders von ihrer Mutter konstant verbal niedergemacht und unterdrückt wird, ist dies die beste Zeit des Jahres, denn sie bedeutet Freiheit. Und Yu, ihr Cousin. Yu, der sich für einen Außerirdischen hält. Für Natsuki, ihrer Ansicht nach selbst ein Magic Girl, eine glückliche Fügung des Schicksals, ist sie doch die einzige Vertraute von Pyut – einer Art Stofftier, den sie in ihrer Fantasie jedoch für einen Bewohner des fremden Planeten Pohapipinpopopia hält und der ihr verrät, dass auch Yu Pohapipinpopopianer ist. Natsuki und Yu fühlen sich beide nicht wohl in der restriktiven, bevormundeten Welt, in der sie leben und in der Kinder nicht wirklich Kinder sein dürfen, sondern als kleine Menschen auf ihre wahre Bestimmung vorbereitet werden müssen: Im Fall von Natsuki das Leben als Ehefrau und Mutter. Die Zeit im Haus in den Bergen, besonders im ehemaligen Seidenraupenzimmer, ist ihre Zuflucht und ihr Paradies, in dem sie ihre eigenen Regeln aufstellen und sein können, was immer sie sein wollen. Als sich die Zeit in den Bergen dem Ende zuneigt, beschließen die beiden, ihre Liebe zu festigen und zu »heiraten«, ihr Eheversprechen: zu überleben, um jeden Preis. Von den Erwachsenen werden die beiden Kinder beim die Ehe vollziehenden Geschlechtsverkehr (oder dem, das die Kinder dafür halten) entdeckt. Ein Skandal und der letzte Sommer, den Natsuki an ihrem Lieblingsort verbringen darf. Im Sommer, der folgt, wird Natsuki von ihrem Ferienlehrer sexuell missbraucht, flieht tiefer und tiefer in ihre Fantasiewelt, versucht nur noch Körper zu sein, um ihre Seele zu schützen. 20 Jahre später hat Natsuki den Missbrauch noch immer nicht verarbeitet, fühlt sich mehr denn je als Fremdkörper in einer Welt, zu der sie schon lange jeden Bezug verloren hat. Yu hat sie seit 20 Jahren nicht gesehen. Ob er zurückgekehrt ist zu seinem Heimatplaneten? In Tomoobi hat Natsuki einen Ehemann gefunden, der selbst ein Außenseiter ist. Sie führen eine Zweckehe, unter dem Deckmantel der Ehe entfliehen sie gemeinsam und doch allein dem, was die Gesellschaft für sie vorgesehen hat, als richtig erachtet. Auf Tomoobis Drängen hin kehrt Natsuki mit ihm und nach 20 Jahren zurück zum Haus in den Bergen. Dort treffen sie auf Yu, der im Leben anzukommen scheint. Doch der Schein trügt, zu dritt fernab der Wirklichkeit bestärken sie sich in ihrer jeweiligen Realitätsflucht, ergänzen sie sich, steigern sie sich hinein in einen Wahn, der sich rasend schnell zu einer Psychose entwickelt.

»Das Seidenraupenzimmer« ist viel, aber definitiv keine leichte Kost. Dennoch fliegt man fast durch die Seiten, wird tiefer und tiefer hineingezogen in die fantastische, surreale Welt von Natsuki, Yu und Tomoobi. Ja, es ist eine Geschichte von Außenseiter*innen. Von Menschen, die dem Druck einer auf Leistung und Gehorsam ausgelegten Gesellschaft nicht nachgeben können oder wollen. Es ist die Suche nach verwandten Seelen, nach dem Gefühl, nicht ganz so verzweifelt allein zu sein. Und damit ist es eine Geschichte über Freundschaft und Liebe. Aber in erster Linie ist es für mich eine Geschichte über kaputte Kindheiten. Über Traumata: lieblose Eltern, die ihre Kinder seelisch missbrauchen. Furchtbare Menschen, die Kindern sexuelle Gewalt zufügen und sie systematisch brechen. Über eine Gesellschaft, in denen niemand Kindern zuhört, in denen sie vollkommen abhängig sind von Erwachsenen, die sie jederzeit fallen lassen könnten, sobald sie Probleme machen. Und missbrauchte Kinder sind ein Problem. Also redet man nicht darüber, fragt nicht, sieht weg. Lässt Kinder seelisch wie körperlich leiden und erwartet, dass sie weitermachen. Und es ist die Geschichte von Frauen, die in den Augen der Gesellschaft nicht viel mehr sind als Gebärmaschinen. Die geächtet, ausgestoßen, verurteilt werden, wenn sie ihren reproduktiven Pflichten nicht nachkommen wollen. Denn es ist schließlich das größte Glück einer Frau, von einem Mann gefunden zu werden und Wert zu erfahren. Ich weiß nicht, ob es die gemeinschaftliche Psychose am Ende gebraucht hätte, die letzten 30 Seiten waren für mich etwas übertrieben, zu schnell ist zu viel passiert, menschlicher Verfall. Denn der Rest des Buchs war unglaublich stark, eindringlich, schmerzend, wütend machend, ausdrucksstark. Eine überspitzte Kritik an einer Gesellschaft, stellvertretend hervorgebracht durch Figuren, die in eben jener Welt durch die Raster rutschen. Definitiv ein Leseerlebnis der besonderen Art, das einen aufgewühlt und verstört zurücklässt.  

»Ich musste so lange wie möglich überleben. Ob wir irgendwann einfach sein könnten, ohne immerzu ums Überleben zu kämpfen?«




..................................................................

Daten zum Buch
Titel: Das Seidenraupenzimmer
Autor*in: Sayaka Murata
Sprache: Deutsch
Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe
Verlag: Aufbau
Hardcover | 254 Seiten | ISBN: 978-3-351-03793-2

Kommentare