Rezension zu »Die Gebärmutter« von Sheng Keyi

»Die eine Seite, die eine Gebärmutter in sich trug, musste die gesamte moralische, reproduktive und schmerzhafte Verantwortung übernehmen. Männer und Frauen kamen gleichzeitig in den Genuss der Sinnesfreuden, aber nur aufgrund der Gebärmutter befanden sich die Männer danach auf freiem Fuß, während die Frauen in einem Netz gefangen waren.«

Ein kleiner Ort in der chinesischen Provinz Hunan, irgendwie aus der Zeit gefallen, irgendwie stehen geblieben. Im 20. und 21. Jahrhundert begleiten wir die Frauen einer Familie durch vier Generationen hinweg auf ihrem Lebensweg. Da wäre Qi Nianci, aufgewachsen unter der Qing-Dynastie wurden ihr der chinesischen Tradition folgend als Mädchen die Füße abgebunden, weswegen sie kaum laufen kann. Qi, die nach dem frühen Tod ihres Ehemannes zur Matriarchin werden und für das Überleben ihres Sohnes und dessen Familie kämpfen musste. Eine Frau, die jedes eigene Bedürfnis, jede Regung abgetötet hat und über die Jahre zu einer kalten, harten Frau wurde. Da wäre Wu Aixing, ebenfalls jung verwitwet, die unter den alles sehenden, immer kalten Augen ihrer Schwiegermutter ihren Sohn und ihre fünf Töchter groß ziehen muss. Dabei immer kämpfend mit den eigenen Bedürfnissen und körperlichen Problemen, ausgelöst durch die Spirale, die ihr nach der Geburt ihres jüngsten Kindes zwangsweise eingesetzt wurde und inzwischen verwachsen ist mit ihrem Fleisch. Wu Aixings Töchter Chu Yun, Chu Yue, Chu Bing, Chu Xue und Chue Yu werden zwischen der Jahrtausendwende groß. Kennen das unbeugsame, durch Verzicht und harte körperliche Arbeit geprägte bäuerliche Leben in der chinesischen Provinz ebenso wie Fortschritt, Technik und Großstädte. Manche von ihnen sind geblieben, manche gegangen. Manche gehen den Weg der Frauen vergangener Generationen, andere beschreiten neue Wege mit nie gekannten Möglichkeiten. Manche werden schwanger, andere nicht. Manche werden Mütter, andere nicht. Manche wollen Mutter sein und können nicht, andere könnten Mutter sein und wollen nicht. Manche führen glückliche Ehen, manche finden sich ab. Denn auch im 21. Jahrhundert ist das Leben der Frauen geprägt von diesem einen Körperteil, der, unsichtbar unter der Haut, doch alles bestimmt: die Gebärmutter. Die Frage der Fortpflanzung bestimmt ihre Leben, egal in welcher Generation. Als Chu Xiu, die einzige Tochter von Chu Laibao, Wu Aixings einzigem Sohn, schwanger wird, kommt schließlich der Familienrat zusammen, um zu entscheiden, ob dieses Kind geboren werden soll. 

»Dies war ein Krieg der Gebärmütter.« 

Ich denke, kein Satz könnte dieses Buch besser beschreiben. Denn zwischen den Zeilen, zwischen den leisen Erzählungen der Frauen und auch der Männer der Familie, tobt ein Krieg. Frauen, reduziert auf ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung, begehren auf oder unterwerfen sich unter die gesellschaftlich aufgezwungene Rollenerwartung, die mit dem Frausein einhergeht. Begehren auf oder unterwerfen sich unter die Familienpolitik Chinas, in der die Einstellung zu Abtreibungen eine ganz andere ist als hier. Denn Abtreibungen gehören dort zur Tagesordnung, sind vielleicht sogar normaler als Geburten. Denn Geburten, der zeitliche Abstand dazwischen, der Körper einer Frau ist streng reguliert und politischem Denken unterworfen. Und doch, so irrsinnig und widerlich es ist, in einer Welt, in der sich aufgrund ihrer Geschlechtsorgane alles um Frauen dreht, geht es doch nur darum, männliche Nachkommen zu zeugen. Dieses Buch zu lesen war stellenweise nicht leicht. Das lag zum einen daran, dass ich mit den doch sehr ähnlich klingenden und aussehenden Namen der Töchter und den Zeitsprüngen zwischen Personen und Generationen mehr als einmal durcheinander kam. Zum anderen lag es daran, dass mir die beschriebenen Geschehnisse teilweise einfach nahe gingen. Oft musste ich mich daran erinnern, dass das, was ich gerade lese, heute spielt; es wirkte so fern und rückständig in seiner Misogynie. Ohne all zu sehr in die Tiefe zu gehen zeichnet »Die Gebärmutter« ein starkes, bedrückendes Bild eines langanhaltenden, andauernden Gesellschaftskonfliktes, ausgetragen auf den Körpern von Frauen. Leise, manchmal nur andeutend, erfahren wir von kleinen Ausbrüchen, vom Versuch einer Selbstbestimmung, die viel zu oft in auferlegten Grenzen kleine Spielräume findet, vom leisen weiblichen Begehren, von Lust und Weiblichkeit, von Unterdrückung, gesellschaftlichen Zwängen und einem Druck, dem man sich egal ob Land oder Stadt, heute oder gestern, gebildet oder nicht, nicht entziehen kann. Ein teilweise schwierig zu lesendes, manchmal verwirrendes, aber wichtiges und eindrückliches Buch über das Leben als Frau in China. 

»Du musst wissen, die Menschen sind jetzt zwar scheinbar aufgeschlossen, aber ihr tief verwurzelter Hass gegenüber Frauen, die aus dem Gleis geraten, ist [...] gar nicht weit entfernt.« 




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Daten zum Buch
Titel: Die Gebärmutter
Autor*in: Sheng Keyi
Sprache: Deutsch
Aus dem Chinesischen übersetzt von Frank Meinshausen
Verlag: DuMont
Hardcover | 432 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6805-6

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