Rezension zu »Diamantnächte« von Hilde Rød-Larsen

»Ein Paradox: dass ich glaubte, die Vorstellungskraft könne jedem von uns alles ermöglichen, und mir gleichzeitig dämmerte, dass die Straßen und Mauern in unserem Inneren immer auch mit den Menschen zusammenhängen, mit denen wir uns umgeben.«

Agnete führt ein gutes Leben. Ein kontrolliertes Leben. Als Übersetzerin hat sie einen guten, sicheren Job, der ihr an den meisten Tages Freude bereitet. Zu ihrer 16-jährigen Tochter hat sie ein gutes Verhältnis, lässt ihr die Freiräume, sich zu entfalten und zu entdecken und wird dafür regelmäßig mit gemeinsam verbrachter, liebevoller Zeit belohnt. Auch mit ihrem Ex-Mann und dem Vater ihrer Tochter versteht sie sich noch. Ihr jetziger Ehemann ist ein guter Mann. Objektiv betrachtet und nach gesellschaftlichen Maßstäben führt Agnete ein gutes Leben. Ein Leben, das nach Plan und in kontrollierten Bahnen verläuft. Doch warum fallen ihr plötzlich die Haare aus? Eine körperliche Reaktion auf Stress, auf ein Trauma, eine Reaktion eines Körpers, der doch sonst tut, was Agnete von ihm will. Eine Reaktion, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Agnete spürt, wie die Fassade bröckelt. Wie etwas in ihr geschlummert hat, seit langer Zeit und nun, endlich, an die Oberfläche kommen möchte. Als ihr Mann für einen Forschungsauftrag für ein paar Monate ins Ausland geht, findet Agnete die Ruhe, die nötig ist, um Worte zu finden, Erinnerungen zuzulassen und dem zuzuhören, was ihr Innerstes ihr schon seit langer Zeit zu sagen versucht. So setzt sich Agnete vor den Schreibtisch und macht von ihrer eigenen Stimme Gebrauch. Erinnert sich an die Zeit ihrer Studiums in London als sie eine junge Frau war, getrieben von dem Wunsch, gesehen zu werden, ins Licht zu treten und dabei verloren ging in einer Dunkelheit, die vortäuschte Licht zu sein. 

»Jedes Mal, oft war es nicht, klopfte ich an die Tür, mit einem Herz, das nicht nur aus Hoffnung pochte, sondern auch in dem Glauben, jetzt, jetzt würde mir in die Augen gesehen, mit Augen, die sahen, dass es mir nicht so gut ging, wie ich selbst behauptete. Und dann taten sie es nie.«

»Diamantnächte« ist einzigartig. Ich habe noch nie ein Buch wie dieses gelesen. Es ist eine leise, eine bedachte Geschichte, die erzählt wird. Es ist Agnetes Geschichte und sie fühlt sich so echt an. Agnete erzählt, sucht Worte, verirrt sich in ihnen, versteckt sich vor ihnen, springt vor und zurück, findet sie, stellt sich ihnen, macht sie sich zu eigen. Schicht um Schicht reißt Agnete durch ihr Schreiben die Mauern ein, die sie jahrzehntelang um sich errichtet hat. Arbeitet auf, stellt sich, unschönen Wahrheiten, beschönigenden Lügen und ihrem Selbst, ohne zu wissen, was am Ende von ihr übrig bleibt. Es liegt ein Drängen hinter diesen Worten, ein pulsierender Strom, der sich durch die Seiten zieht und die Kraft hat mitzureißen, wenn man ihn lässt. Es ist eine Geschichte über Beziehungen, zu anderen und zu sich selbst. Über die Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, wenn die Wahrheit zu weh tut, und die am Ende zu einer anderen Form der Wahrheit werden. Es liegt eine Kraft in den Worten, die wir nutzen. Es liegt eine Kraft darin, zuzuhören und hinzusehen. »Diamantnächte« handelt von der uns innewohnenden Angst und Unsicherheit, von Selbstbetrug, Leugnung und Verletzlichkeit. Von Menschen, die nicht gut tun, die ausnutzen, die sich als Licht tarnen und Dunkelheit bringen. Es geht um den Körper, Leinwand des Lebens, Austragungsort von inneren wie äußeren Kämpfen. Es geht um den schmerzenden Widerspruch zwischen dem Wunsch, gesehen zu werden, richtig, einmal nur, und dem Wunsch, zu verschwinden. Es geht um psychische Wunden, die niemals ganz heilen.

»Aber es kostet Kraft. Ich bin so kraftlos.« 

»Diamantnächte« war wie eine Flutwelle, die mich mitgerissen hat. Ich war nicht vorbereitet auf diese Geschichte, auf diese Gefühle, auf eine Distanziertheit im Erzählen von Agnete, die mich umso mehr berührt hat. Manchmal muss man sich erst von sich selbst zu distanzieren, um die Kraft zu finden, sich der eigenen Wahrheit zu stellen. Wie schwer es sein kann, nach Hilfe zu rufen. Wie leicht es sein kann, im eigenen Selbst zu ertrinken. Wie selten man gesehen wird, wie selten jemand fragt »Wie geht es dir?« und eine ehrliche, eine aufrichtige Antwort hören will. Wie leicht man Dunkelheit mit Licht verwechseln kann. Dieses Buch. Diese besondere Art der Erzählung. Diese Geschichte. Wow.

»Was wir alles tun, wir alle, um die Dunkelheit fernzuhalten, die Unruhe.«




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Daten zum Buch
Titel: Diamantnächte
Autor*in: Hilde Rød-Larsen
Sprache: Deutsch
Aus dem Norwegischen übersetzt von Ursel Allenstein
Verlag: Park x Ullstein
Hardcover | 420 Seiten | ISBN: 978-3-98816-001-0

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