Rezension zu »Das achte Haus – In Gedenken an ein Mädchen« von Linda Segtnan

Ein Abend im Mai im Jahr 1948 in der Gemeinde Perstorp in Schweden. Die neunjährige Birgitta Sivander verlässt ihr Elternhaus, fährt mit dem Fahrrad los Richtung Wald, auf der Suche nach Lärchen. Sie kommt nie wieder zurück. Eine Suche beginnt. Stunden später, ein neuer Tag, kurz vor dem Sonnenaufgang findet man ihre Leiche. Sie liegt in einem Graben, verdeckt von schweren Steinen. Ihr Mord wird nie aufgeklärt. 70 Jahre später stößt Linda Segtnan zufällig auf einen Zeitungsartikel über den unaufgeklärten Mord. Aus Gründen, die selbst nicht genau benennen kann, löst dieser Bericht etwas aus in ihr. Linda fängt an zu recherchieren, will mehr über Birgittas Leben und ihren Tod herausfinden. Besucht Archive, verschafft sich Zugang zu lange vergessenen Zeitungsartikeln und Prozessakten, begibt sich auf die Spuren dieses Mädchens. Währenddessen hinterlässt der Mordfall Spuren in Lindas Seele. Es lässt sie nicht mehr los, das Schicksal dieses Mädchens, das gleichzeitig das Schicksal so vieler Mädchen ist. Sie fühlt sich verantwortlich, fühlt sich als Mutter und Rächerin zugleich. Tiefer und tiefer wird sie hineingezogen in die Vergangenheit, entwickelt eine obsessive Beziehung zu dem Fall und den beteiligten Personen, den Mordverdächtigen. Sucht nach noch lebenden involvierten Personen, in der Hoffnung, Antworten auf unzählige Fragen zu finden. Birgittas Schicksal wird zu Lindas Besessenheit, durchdringt mehr und mehr ihren Alltag und ihre Gedanken. Auch zulasten ihrer eigenen Familie, ihren eigenen Kindern. 

»Wir lassen unsere Kinder jeden Tag aufs Neue im Stich. Kleine, winzige Vergehen an ihrem grenzenlosen Vertrauen. Wir tun das aus Liebe, versuchen, eine Balance zwischen Loslassen und Festhalten zu finden.«

»Das achte Haus« ist mein erster True-Crime-Titel. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, wie gern ich Krimis lese und True-Crime-Serien schaue. Ich glaube, für mich hätte keinen besseren Einstieg in dieses Genre gegeben als »Das achte Haus«. Denn es ist kein klassischer True-Crime-Titel. Nein, dieses Buch ist so viel mehr. Denn wir begleiten die Autorin nicht nur auf ihrer Suche nach Antworten. In abwechselnden Kapiteln tauchen wir zudem tief ein in ihre Gedanken- und Gefühlswelt, in ihren Alltag, in ihr Leben als Frau und vor allem als Mutter. Aus erster Hand erleben wir, was Birgittas Schicksal in Linda Segtnan auslöst, wie sie an ihre Belastungsgrenzen kommt. Als Autorin begleiten wir Linda bei ihren Ermittlungen, durchforsten Ermittlungsakten, sind bestürzt über die damaligen Vorgehensweise, die Vorverurteilung und die einseitige, alles andere als objektive Ermittlungsarbeit. Als Mutter begleiten wir sie in ihrem Alltag, erleben die Höhepunkte und Abgründe der Mutterschaft. Die Sorgen, die Überforderung, das Loslassen und Festhalten, die Ansprüche der Kinder an ihre Mutter und Lindas emotionale, ganz persönliche Grenzen. Als Frau fragen wir uns mit ihr, was es heißt, in dieser Welt weiblich zu sein, egal ob vor 70 Jahren oder heute. Erinnern uns an unschöne Erlebnisse, sind uns einer immerwährenden Gefahr bewusst, wissen um das Böse, das lauert. Diese abwechselnden Kapitel tun der Erzählung keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Sie ergeben ein großes Ganzes, fügen sich zusammen, wirken aufeinander, denn Linda Segtnan ist alles gleichzeitig: Frau, Mutter, Autorin. 

»Die erschreckende Erkenntnis flattert lautlos in meiner Brust, die Mörder sind zeitlos, sie sind nur ein Schatten, der weiterweht, sie sind das Böse [...]. Wenn ich weitersuche, werde ich immer nur die gleiche Geschichte finden, die sich immer wiederholt.«  

Wie Linda Segtnan lässt sich auch »Das achte Haus« lässt kaum in ein Genre einordnen. Es ist True Crime, es ist Roman und Autobiographie zugleich. Es ist anders, ehrlich, emotional, nüchtern, ungeschönt und ein absolut faszinierendes, sogartiges Leseerlebnis! Wer Lust hat, mit Genregrenzen zu brechen und sich auf etwas ganz Neues einzulassen, kann ich dieses Buch nur empfehlen!




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Daten zum Buch
Titel: Das achte Haus – In Gedenken an ein Mädchen
Autor*in: Linda Segtnan
Sprache: Deutsch
Aus dem Schwedischen übersetzt von Kerstin Schöps
Verlag: Atrium
Hardcover | 400 Seiten | ISBN: 978-3-85535-115-2

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