Rezension zu »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« von Sina Scherzant

»Es war wohl so, dass unsere Geschichte nur für dieses eine Jahr geschrieben worden war.«

Anfang der 2000er zieht die 14-jährige Katha zusammen mit ihrer 8-jährigen Schwester Nadine und ihrer Mutter um, nachdem sich Kathas Eltern haben scheiden lassen. Ein schwieriges Alter für einen Neuanfang: neue Stadt, neue Familienverhältnisse, neue Wohnung, neue Schule, neue Freund*innen finden. Andere Jugendliche würden rebellieren, Probleme machen. Nicht so Katha, denn die feinfühlige Katha wuchs in einem Zuhause auf, in dem sie die sich verstärkenden Spannungen zwischen ihren Eltern spürte und versuchte, gegenzusteuern. Inzwischen hat sie diese Verhaltensweisen verinnerlicht, nennt sich selbst Lebenshandwerkerin und ist immer genau das, was andere von ihr wollen oder brauchen. Für ihren physisch abwesenden Vater ist sie nur dann existent, wenn er Zeit mit seinen Kindern verbringen möchte. Für ihre überforderte, emotional und mental abwesende Mutter ist sie die perfekte Tochter, die keine Probleme macht. Für ihre kleine Schwester ist sie Mutter, Schwester, Bezugsperson, Dreh- und Angelpunkt. Für ihre neue Clique in der Schule ist sie die unkomplizierte, sich fügende Neue. Für sich selbst ist Katha nichts: erlaubt sich keine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Forderungen. Bis Katha Angelica kennenlernt, die exzentrische, eigenwillige Mutter einer ihrer neuen Freundinnen. Für Jugendliche ungewöhnlich verbringt die Clique viel Zeit in Angelicas Garten, zusammen mit Angelica. Für Katha und die anderen Mädchen wird Angelica innerhalb eines Jahres zu einer der wichtigsten Personen im Leben: Angelica wird Freundin, Vertraute, Ersatzmutter. Jemand, der da ist, wahrnimmt, zuhört, hilft und Halt bietet. Durch Angelicas Einfluss lernt Katha Stück für Stück, nicht andere, sondern sich selbst an die erste Stelle zu setzen, mehr und mehr für sich einzutreten und eigene Bedürfnisse zuzulassen. Doch dann erkrankt Angelica plötzlich und schwer und Katha droht den Halt zu verlieren, in einer wankenden Welt, die sich ihrer Kontrolle entzieht.

»Sich zu kümmern, aufzuopfern, allzeit bereit zu sein im Kampf gegen das Unwohlsein der anderen, hieß nur blöderweise auch irgendwie unsichtbar zu werden.«

»Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« hat mich mit dem ersten Satz abgeholt und bis zum letzten Wort in seinen Bann gezogen, aus den vielfältigsten Gründen: Der Schreibstil der Autorin ist mitreißend, enthält eine faszinierende Mischung aus Wortwitz und Tiefgang, ist dabei immer leicht und doch tragend. Ich musste schmunzeln, lachen, Tränen vergießen. Gleichzeitig hat mich ein Buch selten so abgeholt und zurückgeworfen in meine eigene Kindheit und Jugend: »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« ist zugleich und Throwback in die Nullerjahre: die Serien, Filme, Songs, Spiele, Eigenheiten der Zeit – so vieles wurde aufgeweckt, mit derselben nostalgisch-belächelnden Art und Weise beschrieben, mit der ich selbst an diese Zeit zurückdenke. Es war schön, es war Erinnern, Wiederaufleben und Loslassen. Ich denke, das trifft es vielleicht am besten: »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« ist vieles, aber für mich in erster Linie ein Buch über die Jugend. Wir er- und durchleben diese prägende, verwirrende Zeit mit Katha: die erste Liebe, die ersten sexuellen Erfahrungen, die ersten Enttäuschungen und leider auch die ersten negativen Erfahrungen. Die Komplexität und Schwierigkeit von Teenager-Freundschaften, in mancherlei Hinsicht schwieriger als Liebesbeziehungen. Das Herauswachsen aus dem Kind, das man in Teilen noch ist, und das Hineinwachsen ins Frausein, für das man doch noch nicht bereit ist. Eine schwierige Zeit, in der man so verletzlich ist und doch vorgibt, stark zu sein. Es ist eine Zeit, in der man sich verliert und wiederfindet, in der man herausfinden muss, wer man ist, wer man sein will und kann. Eine Zeit des Experimentierens mit den Teilen der eigenen Persönlichkeit. Gleichzeitig erzählt »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« eine Familiengeschichte, gibt einen Einblick in die schwierige Lage von Scheidungskindern, in ein Leben von Kindern, deren Eltern mehr abwesend als da sind. Erzählt von Kindern, die zu schnell erwachsen werden müssen, weil die Eltern keine Erwachsenen, keine Eltern sein können oder wollen. Katha und Nadine, zwei Schwestern, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und sich doch brauchen, als alles, das sie haben. Wie wichtig es ist, Vorbilder zu haben. Jemanden, der da ist und sich kümmert, egal ob eigene Elternteile oder andere Bezugspersonen. Angelica, die Katha mehr bedeuten wird als ihre eigene Mutter. Der tiefe, bodenlose Schmerz darüber, zu verlieren, was man liebt. Der erste große Verlust, das Fallen und das Weiterkämpfen. Die Hoffnung. Lernen, an sich selbst zu denken. Eine Person zu sein, die für sich selbst einsteht. 

»Am Ende sind es die Lebenden, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, denke ich.«

Wie viel mehr ich noch sagen könnte über »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne«. Denn dieser Roman ist so vieles. Kindheit, Jugend, Leben, Erinnern und Loslassen, Liebe und Schmerz. Fantastisch, mitreißend, berührend, humorvoll, schmerzend und einfühlsam. Große Leseempfehlung von mir!

»Am Ende entkommt niemand der eigenen Kindheit ganz unbeschadet.«




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Daten zum Buch
Titel: Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Autor*in: Sina Scherzant
Sprache: Deutsch
Verlag: Park x Ullstein
Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-98816-002-7

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