Rezension zu »All die Frauen, die das hier überleben« von Natalja Tschajkowska

»Ich habe ernsthaft versucht, ihm zu glauben, weil es so einfacher ist. [...] Immerhin sagt auch die Bibel, dass eine Frau, geschaffen aus der Rippe eines Mannes, diesem gehorchen und sich in allem auf ihn verlassen müsse. Wenn das wahr ist, was habe ich dann falsch gemacht?«

Ein Donnerstag im Juni 2021. Heute wird Martas Ehemann Maksym beerdigt. Äußerlich geduldig, ruhig und trauernd nimmt Marta die Beileidsbekundungen entgegen. Die Menschen sind schockiert über Maksyms unerwarteten, zu frühen Tod, trauern mit Marta, wünschen ihr Kraft in dieser schweren Zeit. Was niemand weiß, was niemand weiß, weil Marta es niemandem zeigt, niemandem zeigen darf: In ihren Innern sieht es anders aus. Zum ersten Mal seit langer Zeit empfindet Marta nur eins: pure Erleichterung. Weil sie, jetzt da Maksym tot ist, endlich wieder atmen kann. Endlich keine Angst mehr haben muss, sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sicher fühlen kann. Marta lässt sie zu, die Erinnerungen und durchlebt sie nochmals, die schlimmsten Jahre ihres Lebens: Kurz nachdem sich Marta und Maksym 2016 kennengelernt haben, folgt die überstürzte Hochzeit, zu der sie auf Maksyms Wunsch hin niemand einladen. Eine Hochzeit, nicht aus Liebe, sondern aus dem Wunsch heraus, nicht allein zu sein. Marta heiratet Maksym in der Hoffnung, nochmals von vorne anzufangen, ihre von einer totkranken Mutter und einem alkoholkranken Vater überschattete Kindheit hinter sich lassen und als erwachsene Frau einen Funken Glück oder doch zumindest Zufriedenheit finden zu können. Doch für Marta soll es anders kommen. Nach der Hochzeit zeigt Maksym Schritt für Schritt, Tag für Tag mehr und mehr sein wahres Gesicht. Marta sieht es nicht, Marta will es nicht sehen, Marta relativiert. Die schleichende Isolation, seinen Geiz in Bezug auf alles, das sie betrifft, seinen Kontrollzwang, seinen wachsenden Alkoholkonsum, die schlimmer werdenden Beleidigungen, sein plötzlich ausbrechender Jähzorn, der von ihm eingeforderte, grobe Sex, ob Marta möchte oder nicht, denn eine gute Ehefrau hat gehorsam zu sein und sich den Wünschen, Forderungen des Mannes zu fügen. Und schließlich: die zunehmende, immer häufiger werdende, von Mal zu Mal schlimmer werdende körperlicher Gewalt. Marta ordnet sich unter, sieht keinen Ausweg, leidet still und stumm, verdeckt die Wunden auf ihrem Körper und in ihrer Seele so gut sie kann. Es dauert Jahre, bis Marta den Mut und die Kraft findet, sich zu wehren. Denn mit einem Schlag ihres Mannes, der sie mit roher Gewalt trifft, wird Marta klar: Sie muss handeln. Muss einen Weg aus ihrer Hölle, ihrem Gefängnis finden, schnell, denn der nächste Wutanfall ihres Mannes könnte sie töten. Marta will leben. 

»Wenig später kommt er zurück, setzt sich neben mir in die Hocke und sagt: ›Sei mir nicht böse. Zwing mich nicht, das wieder zu tun. Ich wollte das nicht. Du bist selbst schuld. Du hast mich provoziert.‹ «

»All die Frauen, die das hier überleben« ist ein Roman, der von seinen Lesenden einiges fordert. Martas Geschichte ist eine Geschichte, die weh tut. Mal leise, mal brutal und laut. Es ist eine Geschichte, die in dieser oder ähnlicher Form für viele Frauen (und, seltener aber auch, Männer) bittere, furchtbare Realität ist. Als jemand, der davon nie betroffen war, weiß man davon. Man liest die Statistiken, hört um die Knappheit in Frauenhäusern, sieht die Plakate mit Hilfsangeboten, konsumiert Medien, in denen häusliche Gewalt in fiktionaler oder realer Version thematisiert wird. Und doch bleibt es zu einem gewissen Grad etwas Abstraktes, das sich der wirklichen Vorstellungskraft zu einem gewissen, das eigene Selbst schützenden Teil entzieht. »All die Frauen, die das hier überleben« hat diese Barriere eingerissen. Zu lesen, wie schleichend Marta in diese von Gewalt und Angst geprägte Ehe hineinmanipuliert wurde, hat mich vieles verstehen lassen. Es ist passiert, ohne dass es Marta klar war, bis es zu spät war, um einfach gehen zu können. Als Lesende erhält man einen schonungslosen Einblick in Martas Gedanken und Lebenswelt. Marta sucht die Schuld immer wieder bei sich selbst. Weil sie es geschehen lässt, weil sie sich unterordnet, das Gute in ihm sucht und dabei doch nur die dysfunktionalen Beziehungsmuster ihrer Kindheit reproduziert, vor denen sie eigentlich davonlaufen wollte. Doch es ist nicht so einfach. Jahre der Angst, der Unterdrückung an dem einzigen Ort, an dem man sich sicher fühlen sollte, lassen sich nicht einfach mit Logik ausradieren. Wir sehen Marta dabei zu, wie sie durch Maksyms Handlungen und Worte langsam gebrochen wird, ein Schatten ihrer selbst wird, mehr tot als lebendig. Wir sehen Marta dabei zu, wie sie das Unmögliche schafft und die Kraft findet, für sich einzutreten, wie ihr Lebenswille die Kontrolle übernimmt und Marta etwas tut, von dem sie nicht wusste, dass es noch in ihr steckt: Marta fängt an, zu kämpfen. Nicht jede Geschichte endet so. Nicht jede Frau schafft es, das hier zu überleben. 

»In meinem Kopf wirbeln wie Rauch Gedanken, die zu ordnen mir die Weisheit fehlt. Warum bin ich so ohnmächtig? Warum kann ich mich nicht wehren, nicht verteidigen?«

Ja, dieses Buch tut weh. Dieses Buch kostet Kraft und ich verstehe, dass es keine Geschichte ist, die jede*r lesen kann und/oder will. Aber denjenigen, die sich diesem emotionalen, unfassbar eindringlichen Roman und seiner Thematik stellen wollen, denen lege ich »All die Frauen, die das hier überleben« sehr ans Herz. Es ist wichtig, zu verstehen. Es ist wichtig, Warnsignale zu erkennen. »All die Frauen, die das hier überleben« ist kein leichtes, aber ein wichtiges Buch. 

»Ich bin jetzt nicht mehr bereit, ihn zu fürchten. Denn Maksym ist nicht der allmächtige Gott. Er ist nur ein ganz gewöhnlicher Mann, den es in den Fingern juckt.«

Triggerwarnung: körperliche, psychische und sexuelle häusliche Gewalt




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Daten zum Buch
Titel: All die Frauen, die das hier überleben
Autor*in: Natalja Tschajkowska
Sprache: Deutsch
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Jutta Lindekugel
Verlag: Haymon
Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-7099-8198-6

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