Rezension zu »Loyalitäten« von Delphine de Vigan

»Ich weiß, dass Kinder ihre Eltern schützen und dass dieser Pakt des Stillschweigens sie manchmal sogar das Leben kostet.«

Théo ist ein 12-jähriger Junge, der wie so viele andere Kinder seinen Alters auch gerne Videospiele spielt, überraschend selbstständig und fürsorglich für sein Alter und gut in der Schule. Als Scheidungskind lebt er in zwei Welten. Und doch lebt Théo kein gewöhnliches Leben zwischen Kindheit und Jugend. Seinen Lehrer*innen, allen voran Hélène, fallen im Unterricht immer mehr Kleinigkeiten auf: Théo wirkt immer unkonzentrierter, schläft im Unterricht ein, wirkt fahrig, in sich gekehrt und abgelenkt. Während die meisten Lehrer*innen dies zwar verdächtig finden und ihn weiter beobachten wollen, schrillen bei Hélène, die als Kind und Jugendliche Opfer von häuslicher Gewalt wurde, alle Alarmglocken. Sie steigert sich hinein, achtet manisch auf alles, das mit Théo zu tun hat und fühlt sich gelähmt von dem geringen Handlungsspielraum, den sie als Lehrerin mit nur einem Verdacht hat. Dabei wird sie stetig zurückgezogen, in die Erinnerungen an ihre eigene schmerzbelastete Kindheit. Auch Cécile, die Mutter von Théos einzigem Freund Mathis, stört sich an Théos Verhalten. Doch wird sie gerade von eigenen Ängsten und Sorgen in Bezug auf ihre Ehe geplagt und merkt vielleicht zu spät, dass sie aufmerksamer hätte sein sollen. Denn Hélènes Ahnung scheint sich zu bewahrheiten: Théo ist überfordert. Mit seinem Leben, mit seiner zerrütteten Familie, mit der Lautstärke in ihm. In seiner Hilflosigkeit wendet er sich einem gefährlichen Ausweg zu.

»Es ist eine Wärmequelle, die er nicht zu beschreiben weiß, brennend, versengend und schmerzlich und tröstlich zugleich, ein Moment, wie man ihn nicht oft erlebt.«

»Loyalitäten« kreiert auf unter 200 Seiten und durch die wechselnden Perspektiven von Théo, Hélène, Cécile und Mathis ein emotional gefülltes, dunkles Abbild von Einzelschicksalen, verbunden durch die Tragik von Théos kurzem und doch so kaputten Leben. Mathis, ein Kind, das Kind sein darf und mit Théo doch an für ihn schlechten Umgang geraten ist. Cécile, die ein Geheimnis ihres Mannes entdeckt, wodurch ihre gesamte Welt auf den Kopf gestellt wird, und damit kämpft, Antworten auf ihre Situation zu finden und dennoch eine aufmerksame, gute Mutter zu sein und der dabei alles aus den Händen zu gleiten scheint. Hélène, eine Lehrerin, wie es so viel mehr geben sollte. Engagiert, aufmerksam, mit dem Herzen dabei, die helfen will und doch nicht kann, nicht darf, nicht weiß, wie. Und Théo. Ach Théo. Théo zeigt, wie leicht es ist, Kinder zu Opfern zu machen. Egal, ob von physischem oder psychischem Missbrauch, von Missachtung, von Geheimnissen, von kaputten Familienstrukturen oder von Kämpfen der Erwachsenen, die auf ihren Rücken ausgetragen werden. Auf wenigen Seiten wimmelt »Loyalitäten« von Schmerz, Angst und Last. 

»Manchmal denke ich, das Erwachsenwerden ist nur dazu da: die Verluste und Schäden der Anfänge zu reparieren. Und die Versprechen des Kindes zu halten, das wir gewesen sind.«

»Loyalitäten« ist kein Buch, das man einfach so liest, weg legt und weiter macht. Die Ernsthaftigkeit, die Grausamkeit der Ereignisse wirken nach. Ohne viele Worte, ohne viele Beschreibungen wird ein eindrückliches Bild einer vielschichtigen Gesellschaftskritik geschaffen, die den Umgang mit Kindern ins Zentrum rückt. Kinder als Menschen, die abhängig sind von anderen, ausgeliefert, verletzlich. Und die Wege, wie Erwachsene ihnen tiefgreifenden Schaden mit lebenslangen Auswirkungen zufügen. Ich weiß nicht, ob ich die Eheprobleme von Cécile gebraucht hätte, so sehr sie mich für sich eingenommen haben, haben sie mich doch vielleicht ein wenig abgelenkt vom eigentlichen Thema. Dennoch hat »Loyalitäten« einen bleibenden Eindruck hinterlassen, nicht zuletzt wegen Vigans fesselndem, ganz eigenen Schreibstil. 

P.S.: Wer eine Triggerwarnung braucht, sollte sich vor dem Lesen informieren.




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Daten zum Buch
Titel: Loyalitäten
Autor*in: Delphine de Vigan
Sprache: Deutsch
Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann
Verlag: DuMont
Taschenbuch | 176 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6503-1

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