Rezension zu »Gleich unter der Haut« von Berthe Obermanns

»Wenn es wehtut, kann sie es besser ertragen: den Hass und den Ekel und die anderen Menschen. Vor allem aber sich selbst.«

Seit dem plötzlichen Unfalltod seiner Eltern fühlt sich Niklas, als wäre sein Leben nicht mehr seins. Er geht nicht mehr in die Uni, er trifft sich nicht mehr mit anderen Menschen, er existiert nur noch, um seine demente Oma zu pflegen. Außer seiner Schwester Nora, die in einer anderen Stadt lebt, hat er niemanden mehr. Doch auch Nora kämpft mit dem Verlust, wird dünner und dünner. Niklas kann weder Nora noch sich selbst helfen. Wut, Trauer, unausgesprochene Worte, ungeweinte Tränen, eine Zukunft, die keine mehr sein wird, lähmen den jungen Mann, der in den stillen Momenten an ein Ende denkt, das ihn ein für allemal von seinen Seelenqualen erlöst. In einer kalten Winternacht, in einem der wenigen Momente, in denen er das Haus verlässt, sieht er sie: eine junge Frau. Seine Gedanken fangen an, um sie zu kreisen, etwas in ihm fühlt sich angezogen von etwas in ihr. Als sie sich wieder treffen nimmt er all seinen Mut zusammen und spricht sie an. Sie stellt sich als Lou vor, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist. Doch für Niklas ist sie Lou. Ist sie ein leuchtender Stern in seiner finsteren Nacht. Doch ist auch Lou von einer Dunkelheit umgeben, die noch undurchdringlicher, schwärzer, gefährlicher ist. Niklas verbringt so viel Zeit wie möglich mit der mysteriösen, sprunghaften, schreckhaften 23-Jährigen, die viel nachdenkt, wenig spricht und deren Körper gezeichnet ist von feinen Linien. Doch je näher Niklas ihr kommen möchte, desto größer scheint die Distanz zwischen den beiden zu werden. Bis Niklas nicht mehr weiter weiß und Lou um eine Erklärung bittet: für ihr plötzliches Verschwinden, ihre Erinnerungslücken, ihre Sprachlosigkeit. Und Lou versucht es. Versucht, Niklas ihre Geschichte zu erzählen und findet doch keine Worte für das Unaussprechliche. Während Niklas die Hoffnung nicht aufgibt für eine Zukunft, in der das Licht die Dunkelheit überwiegen könnte, weiß Lou, dass es Momente im Leben gibt, die nie wieder zurückzunehmen sind, die alles verändern und eine Seele bei lebendigem Leib ertrinken lassen. 

»Ich sehe sie von außen und frage mich, wie es in ihrem Innern aussieht.«

Es ist schwer, Worte für diese Geschichte zu finden. Von den ersten Zeilen an kreiert die Autorin mit wenigen Worten eine Stimmung so dunkel und düster wie die tiefste Winternacht. Eine Kälte umgibt die Figuren, ihre Hoffnungslosigkeit ist fast am eigenen Körper spürbar. Ich achte beim Lesen selten auf die genaue Wortwahl, doch bei »Gleich unter der Haut« ging es nicht anders: Jedes Wort wirkt mit Bedacht gewählt, steht genau da, wo es stehen soll, keins zu viel, keins zu wenig, ein kunstvolles Gesamtbild erschaffend, das durch Sanftheit und Schmerz zu uns Lesenden spricht. Niklas und Lou sind zwei zerbrochene Seelen, allein in einer Welt, die keinen Raum lässt für tiefen, lähmenden, andauernden Schmerz. Sie werden zu Randfiguren und doch existiert eine eigene verzweifelte Sehnsucht in ihren Herzen, die Ihresgleichen sucht. Sie finden sich, geben sich Halt und nähern sich Hand in Hand einem Abgrund von dem sie doch tief in sich wissen, dass sie sich ihm am Ende ganz allein stellen müssen.

»Sie lacht laut und leidet leise.«

Erschütternd, bedacht und so leise erzählt »Gleich unter der Haut« eine Geschichte von seelischem Leid in seinen vielfältigen Formen. Von Hoffnungslosigkeit und dem Wunsch, nicht mehr fühlen zu müssen. Dem Wunsch, gesehen zu werden und verstanden. Ein geflüsterter Hilfeschrei zweier junger Menschen, den niemand hört. Der Roman erinnert uns daran, wie wichtig es ist, umsichtig zu sein mit uns selbst und den Menschen um uns, denn wir wissen nicht, wer außen lacht und im Innern in Tausend Scherben zerbricht. Erinnert uns daran, wie wertvoll es ist, jemanden zu finden, der das Licht und die Dunkelheit in uns erkennt, uns akzeptiert und einen Teil des Weges mit uns geht. 

»und immer, wenn ich ihr Gesicht von der Seite aus betrachte, ist es ein bisschen wie ankommen und wie bleiben wollen.«

»Gleich unter der Haut« hat den Teil in mir gefunden, der vor langer Zeit kaputt gegangen ist. Und trotz all des Leids, des Schmerzes, der Ausweglosigkeit mit der ich Lou und Niklas auf das unvermeidbare Ende habe zusteuern sehen, hat der Roman versucht, diesen kaputten Teil in mir zu wärmen. Ich habe viel gefühlt beim Lesen, mich an eigenen Schmerz erinnert. Je tiefer ich in Lous und Niklas' Geschichte versunken bin, desto mehr Raum hatte ich zugleich für meine Gedanken. Ich habe das Buch mit einem Gefühl weggelegt, das ich nicht so recht benennen kann. Irgendwo zwischen Trauer und dem Wissen, dass es so kommen musste, dass nicht jede*r gerettet werden kann, dass manchmal, so furchtbar es ist, zu viel kaputt ist. Jetzt, beim Schreiben, kommen mir die Tränen. Denn diese Geschichte geht gleich unter die Haut.

»Wenn schon sein, dann mit ihm, weil er ihr dabei hilft, dass sie sich selbst wieder spüren kann, sich selbst wieder sieht.«

P.S.: Wer Triggerwarnungen brauchte, sollte sich vorab informieren.




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Daten zum Buch
Titel: Gleich unter der Haut
Autor*in: Berthe Obermanns
Sprache: Deutsch
Verlag: Osburg
Hardcover | 260 Seiten | ISBN: 978-3-95510-291-3

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