Rezension zu »Marianengraben« von Jasmin Schreiber

»Der Gedanke daran, dass du so einfach verlöscht und in die Dunkelheit getaucht bist, entsetzt mich bis heute. Wie soll ich nur damit umgehen, dass du einfach fort und nicht woanders bist?«

Paula liebt ihren kleinen Bruder Tim. Mehr als alles auf der Welt. Tim wiederum liebt Paula. Und das Meer samt aller Bewohner. Eine Leidenschaft, die die beiden Geschwister vereint, arbeitet Paula doch an ihrer Dissertation in Meeresbiologie. Den Marianengraben erforschen, einen neuen Fisch entdecken und nach Tim benennen, das ist ihr Traum, das ist Tims Traum. Doch seit Tim bei einem tragischen Unfall vor zwei Jahren gestorben ist, ist Paulas Leben auf Eis gelegt. Ihr Schmerz, ihre Trauer ist so tief wie der Marianengraben, 11.000 Meter unter der Erde. Nicht nur ihre Dissertation, sondern ihr ganzes Leben ist seit diesem furchtbaren Moment zum Stillstand gekommen. Die Depression hält Paula fest, umklammert sie wie die Tentakeln eines Tintenfischs. Sich lebendig fühlen, ein Leben leben, Freude spüren, all dies scheint unmöglich in einer Welt ohne Tim. Also hat Paula aufgehört zu leben, existiert nur noch. Ihr Therapeut rät ihr zu einer unkonventionellen Form der Trauerbewältigung und obwohl Paula nicht so genau weiß, warum, lässt sie sich darauf ein. Vermutlich nur, weil sie fühlt, dass Tim Gefallen daran gefunden hätte. So lernt Paula den eigenbrötlerischen, schrulligen und verschlossenen Rentner Helmut und dessen eigenwillige Hündin Judy kennen. Helmut, der seinerseits einen Verlust zu verarbeiten hat. Paula und Helmut, zwei einsame leidende Seelen, zusammen vielleicht ein bisschen weniger allein. Aus dem Moment heraus, undurchdacht und spontan beschließt Paula, Helmut auf eine abenteuerliche Reise zu begleiten. Eine Reise, während der beide zurück ins Leben finden. 

»Gedanken sind oft so unkontrollierbar wie die Liebe, die sie auslöst. Und jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch Zustand war.«

Dank der gefühlvollen, leisen Erzählweise hat mich »Marianengraben« ab der ersten Seite in seinen Bann gezogen. Ich hatte und habe das Gefühl, ganz tief in Paulas Seele geblickt zu haben, ihr Leid, ihre Verzweiflung, ihre schiere Unfähigkeit weiterzuleben und ihr Unwille, in einer Welt ohne ihren Bruder am Leben zu sein, waren intensiv und spürbar. Wie gern habe ich Paula und Helmut auf ihrer Reise begleitet, mit ihnen gefühlt, gelitten, geschmunzelt. Helmuts eigensinnige Art, sein Sturkopf, aber auch seine Fähigkeit, im richtigen Moment mitfühlend zu sein, bringen Paula Stück für Stück, Meter für Meter zurück ins Leben, zurück an die Oberfläche. Die Taubheit, die Dunkelheit, die Schwere des Meeres, die sie umgibt, sie gefangen hält und nach unten drückt, weicht dem Gefühl, wieder zu atmen zu können, sich selbst zu spüren, sich lebendig zu fühlen. Gleichzeitig ist Paula der frische Wind, den es braucht, um Helmuts zerbrochenes und verschlossenes Herz wieder mit Mitgefühl auszufüllen und zu öffnen, ihn herauszureißen aus der Lethargie und den selbst erbauten Mauern um sich selbst. Ihre Direktheit, ihre Fähigkeit zu Gefühlen so tief, dass sie darin ertrinkt, ermöglichen ihm und zwingen ihn dazu, sich mit den vielfältigen Formen seiner eigenen Trauer zu befassen, sie zu verarbeiten. Am besten, ihr lest es selbst und lasst euch ein auf diese warmherzige, melancholische Geschichte, die euch zum Schmunzeln und zum Weinen bringen und eure Herzen brechen und heilen wird. »Marianengraben« erzählt die Geschichte von Trauer und deren Bewältigung, vom Schmerz, am Leben zu sein, von Schuld, die lähmen kann, von der Kraft der Freundschaft und der einzigartigen Fähigkeit des Lebens, auch dann weiterzugehen, wenn es sich nicht danach anfühlt. Es ist eine Erinnerung daran, dass Schmerzen und Tod Teil des Lebens sind, aber ein Leben nicht ausmachen. Daran, dass wir stärker sind, als wir glauben, dass es okay ist, Zeit zu brauchen, und dass es okay ist, Hilfe anzunehmen, weil man manchmal gemeinsam ein bisschen weniger allein sein kann und das Trauer zwar immer bleibt, aber bewältigt werden kann. »Marianengraben« ist eine intensive Mischung aus Anfang und Ende, Hoffnung und Trauer, Freude und Schmerz. Es ist Leben, mit allem, was dazugehört.

»Wäre Sehnsucht eine olympische Disziplin, ich hätte uns längst Gold geholt.«




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Daten zum Buch
Titel: Marianengraben
Autor*in: Jasmin Schreiber
Sprache: Deutsch
Verlag: Eichborn
Hardcover | 254 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0042-9

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