Rezension zu »Kontur eines Lebens« von Jaap Robben

Inzwischen ist Frieda Tendeloo 81 Jahre alt. Gesundheitlich angeschlagen und seit dem Tod ihres geliebten Ehemannes auf sich allein gestellt, findet ihr Sohn es an der Zeit, dass seine Mutter in ein Pflegeheim zieht. Dort bleibt ihr nichts außer ihren Erinnerungen. Nach und nach durchlebt Frieda ihr ganzes Leben und stößt schließlich auf Erinnerungen, die zwar seit langem tief in ihr vergraben liegen, doch noch immer mit einer Heftigkeit und Wucht schmerzen, dass Frieda sich schwer damit tut, ihnen zu stellen. Erinnerungen an ihre Jugend in den 1960ern, aufgewachsen in einem engen, streng katholischen Umfeld. Das Leben der jungen Frieda verlief bisher in geordneten und vorgeplanten Bahnen. Als unverheiratete Frau wohnt sie dem Anstand nach noch immer bei ihren Eltern und verdient sich ihren Lebensunterhalt als Floristin. Bis sie an einem kalten Wintertag den zugefrorenen Fluss betritt und Otto begegnet. Für beide ist es eine stürmische, alles verzehrende, keine Regeln kennende Liebe auf den ersten Blick. Es ist egal, dass Otto verheiratet ist. Es ist egal, dass Frieda in einem Umfeld lebt, in dem vorehelicher Sex nicht gestattet ist. Es ist egal, bis Frieda schwanger wird. Zu einer Zeit, in einer Situation, in der Friedas Liebe, Friedas Sexualität und Friedas Schwangerschaft einen Skandal bedeuten. So darf Frieda ihrem ersten Kind keine Mutter sein. Doch im Herzen trägt sie es bei sich. Diese schwere, emotional alles fordernde, furchtbare Zeit wird zu Friedas Geheimnis, weder ihr verstorbener Mann noch ihr Sohn wissen etwas. Doch nach all den Jahrzehnten, alleine mit ihren Gedanken im Heim, dem Warten auf die Geburt ihres ersten Enkelkinds, drängt ihr Geheimnis endlich nach oben, ist die Trauer noch so frisch wie am ersten Tag. Endlich, im letzten Abschnitt ihres Lebens, findet Frieda den Mut, sich ihrer Lebensgeschichte zu stellen, macht sie sich auf die Suche nach Antworten auf so viele Fragen, fühlt sie sich bereit, ihre Geschichte zu teilen.

»Aber immer, immer blieben die beiden Füßchen.«

Ich glaube, ich habe selten einen Satz gelesen, dessen Bedeutung, wenn man sich ihrer bewusst ist, mehr weh tut. Friedas Lebensgeschichte war in vielerlei Hinsicht keine leichte. Ich war beeindruckt von der Stärke dieser Frau, damals wie jetzt. Trotz der Aussichtslosigkeit und der Schwierigkeit ihrer Situation, trotz der Ablehnung von Familie und Umfeld aufgrund von furchtbar sinnlosen, haltlosen Moralvorstellungen vermittelt von der katholischen Kirche, die damit auf der ganzen Welt so viel Leid und Schaden und Schmerz angerichtet hat, wollte Frieda bis zum letzten Moment den Glauben an eine Zukunft nicht aufgeben, in der sie ihr geliebtes Kind großziehen kann. Dieser letzte Moment, in dem in Frieda etwas zerbrochen ist, dass ein ganzes Leben später noch die Kraft besitzt, alles zu zerreißen. Friedas Geschichte, die ihr wirklich für euch selbst lesen solltet, steht stellvertretend für so viele Frauen, in den Niederlanden aber auch im Rest der Welt. Ihr Schmerz und ihr Verlust stehen stellvertretend für den Schmerz und den Verlust tausender. Ihr Kind ist viel zu viele Kinder. Friedas Geschichte, ihre Vergangenheit gingen mir unter die Haut.

Nicht minder berührend und intensiv erlebte ich die Kapitel aus Friedas Gegenwart: Die Hilflosigkeit einer alten Frau zu verfolgen, die für kleinste körperliche Dinge auf die Hilfe anderer angewiesen ist und mit der Scham kämpft, die mit dieser wortwörtlichen Nacktheit und dem Fremden gegenüber Ausgeliefertsein einhergehen, hat auch von mir in vielen Momenten Kraft gefordert. Jetzt im Alter die Kontrolle und die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper zu verlieren, nachdem sie in einem früheren Leben genau dafür so hart und unerbittlich entgegen aller Widerstände gekämpft hat, ist eine Herausforderung, für die Frieda vielleicht schon zu müde ist. Ich habe mit ihr gelitten und mir gewünscht, sie hätte dieses Gefühl der Ohnmacht weder heute noch damals erleben müssen. Die Entfremdung und Vereinsamung im Alter, die mangelnde Privatsphäre und Selbstbestimmung in Pflegeeinrichtungen, der überraschende Tod ihres Mannes, der Verlust ihres Zuhauses, das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden, dafür jedoch eine Last zu sein, die Bewältigung von langwierigen, tiefgehenden Traumata: Auf vielfältige Weise macht »Kontur eines Lebens« genau das. Es zeichnet ein Leben, von Anfang bis Ende, von Jugend bis Alter, voller Trauer und Glück. Ein Roman, tieftraurig und zugleich hoffnungsvoll, einfühlsam und leise geschrieben, voller Mitgefühl und Heilungskraft.




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Daten zum Buch
Titel: Kontur eines Lebens
Autor*in: Jaap Robben
Sprache: Deutsch
Aus dem Niederländischen übersetzt von Birgit Erdmann
Verlag: DuMont
Hardcover | 320 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6818-6

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