Rezension zu »All die Liebenden der Nacht« von Mieko Kawakami

»Hatte ich mich jemals für etwas entschieden, hatte ich jemals selbst gewählt?, fragte ich mich, den Blick auf das Telefon zwischen meinen Händen gerichtet. Dass ich der Arbeit nachging, der ich nachging, dass ich hier wohnte, allein war, niemanden zum Reden hatte, war all das das Ergebnis einer Wahl, einer bewussten Entscheidung?«

Fuyuko ist 34, lebt in Tokio, arbeitet als freiberufliche Korrekturleserin und ist vor allem eins: einsam. Wirklich erwähnenswerte soziale Kontakte hatte sie selten bis nie, doch seit sie im Verlag gekündigt hat und freiberuflich arbeitet, ist ihr Sozialleben quasi nicht mehr existent. Sie lebt für ihre Arbeit, arbeitet von früh bis spät, wenn sie nicht arbeitet, schläft sie und wartet darauf, dass der neue Arbeitstag beginnt. Hijiri, ihre Kontaktperson zum Verlag, für den sie als Freelancerin tätig ist, ist zu ihrer einzigen Verbindung zur Außenwelt geworden. Hijiri ist so alt wie Fuyko, stammt aus der selben Gegend und ist doch ihr komplettes Gegenteil: der Welt zugewandt nimmt sie nicht nur Teil am Leben, sondern stürzt sich kopfüber hinein ins Chaos. Immer wieder versucht sie augenscheinlich vergeblich, Fuyukos emotionale Barrieren zu überwinden. Eines Tages erblickt Fuyuko mehr durch Zufall ihr eigenes Spiegelbild und ist schockiert. Schockiert von der langweiligen, kraftlosen Hülle ihrer Selbst, die ihr durch leere Augen entgegenblickt. Und ihr fällt auf, was ihr lange verborgen blieb: Dass sie einsam ist, sich nach einer zwischenmenschlichen Verbindung sehnt. So schwer es Fuyuko dies auch fallen mag, beschließt sie, etwas an ihrem Leben zu ändern. Sie, die in ihrem Leben keinen Alkohol getrunken hat, entdeckt, wie anders sie sich fühlt, wenn sie getrunken hat. Wenn sie trinkt, fühlt sie sich mutiger und ruhiger zugleich, ihre Einsamkeit wirkt weniger drängend, weniger einsam oder vielleicht auch nur egal. Bis sie Herrn Mitsutsuka begegnet, der erste Mensch seit langem, den sie kennenlernt und ein Gespräch beginnt. Von nun an erfüllen Fuyuko Abende, wenn die Arbeit des Tages beendet ist, einen Zweck, denn der Alkohol wartet. Und immer häufiger auch Herr Mitsutsuka, der langsam aber sicher Licht bringt in die Dunkelheit ihres Daseins.

»All die Liebenden der Nacht« erzählt die Geschichte einer Frau, die an einem Punkt in sich verloren gegangen ist. Die schon immer, von klein auf, introvertiert und sozial etwas inkompetent war, die sich jedoch im Laufe der Zeit komplett in sich zurückgezogen und vor der Welt verschlossen hat. Als Korrekturleserin ist Fuyuko sehr kompetent in ihrem Job, arbeitet und sucht unfassbar gewissenhaft und verbissen nach den Fehlern in den Worten anderer und übersieht dabei ihr eigenes Verstummen. Fuyuko lebt ein Leben, das eben passiert. Nur ohne sie. Sie trifft keine Entscheidungen, macht nichts, existiert einfach nur, seit viel zu langem. So lange, dass sie, als ihr ihre eigene Einsamkeit, die Vergeudung ihrer Lebenszeit, wie Schuppen von den Augen fällt, sie überfordert ist und nicht mehr weiß, wie man Anteil nimmt am Leben oder mit Menschen spricht. Die Begegnung mit Herrn Mitsutsuka soll ein Wendepunkt in ihrer Existenz werden, denn durch ihn lernt sie: menschliche Nähe, ein Miteinander, Vorfreude, ein Leben außerhalb ihrer kleinen, begrenzen Welt. So findet sie die Mut und die Kraft, sich sich nach und nach auf Hijiris Versuche einer Freundschaft einzulassen. Fuyuko ging mir unter die Haut, ich hatte Mitgefühl und Mitleid mit dieser Frau, die in ihrem Herzen ein verschrecktes Kind geblieben ist. Doch gleichzeitig gab es Momente, in denen ich einfach nur frustriert war von ihrem Wesen, ihrer Unfähigkeit Raum für sich einzunehmen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Selbstbestimmung – das zentrale Thema dieses Romans, auf mehreren Ebenen. Denn blickt man tiefer hinter Fuyukos Unsicherheit, zieht man auch Hijiri mit ein ins Gesamtbild, so zeichnet »All die Liebenden der Nacht« ein starkes Bild einer Generation japanischer Frauen, die versuchen, sich von gesellschaftlich auferlegten Zwängen, Anforderungen und Widersprüchen daran, wie eine Frau zu sein hat, zu befreien: zu arbeitstüchtig und nicht arbeitstüchtig genug, zu schwach und zu stark, zu rückschrittig und zu emanzipiert, zu leise und zu laut, zu prüde und sexuell zu freizügig, kinderlos, unverheiratet. Fuyuko und Hijiri, Dunkelheit und Licht, dieser Roman lebt von leisen Kontrasten, die es zu entdecken gilt. 

»Warum ist es nachts so schön? Warum funkelt die Nacht? Warum sieht man nachts nur Licht?«

»All die Liebenden der Nacht« begleitet eine Frau auf ihrem Weg heraus aus ihrem selbst gewählten Exil, hinein in ein Leben, in dem sie langsam lernt, Raum für sich, ihren Körper, ihre Stimme und ihre Gedanken einzunehmen. Ein Leben, in dem die Dunkelheit zwar immer einen Platz behält, und das doch Raum lässt für Licht und Schattenspiel. Leise, feinfühlig und berührend erzählt. 




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Daten zum Buch
Titel: All die Liebenden der Nacht
Autor*in: Mieko Kawakami
Sprache: Deutsch
Aus dem Japanischen übersetzt von Katja Busson
Verlag: DuMont
Hardcover | 260 Seiten | ISBN: 978-3-8321-8229-8

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