Rezension zu »Memphis« von Tara M. Stringfellow

»Was Frauen alles zum Wohl ihrer Töchter tun. Was sie alles nicht tun. Die Scham. Die Schande: die Vergewaltigung ihrer Tochter. Die Gewalt ihres Mannes. Die Psychopathie ihres Neffen.«

1995 kehrt Miriam mit ihren Töchter Joan und Mya zurück nach Memphis in ihr Elternhaus, in das Haus, das ihr Vater einst in den 1940ern mit bloßen Händen für ihre Mutter erbaut hatte. Das Haus, in dem ihre Halbschwester August mit ihrem Sohn Derek lebt. Sie kehrt zurück, auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Der letzte Besuch ist lange her, Joan fehlt jede Erinnerung. Bis ihr Cousin Derek vor ihr steht und die Erinnerungen sie überrollen wie eine Flut, drohend sie mitzureißen. Erinnerungen an Schmerz und Gewalt. Doch sie bauen sich ein gemeinsames Leben auf, die zwei Schwestern mit ihren Kindern, helfen einander über ihren Schmerz hinweg. Erinnern sich an so viele Momente und Geschichten, die das Haus erlebt, in sich aufgenommen hat. Drei Generationen von North-Frauen. Hazel, die Mutter von Miriam und August, die groß wurde in einem Memphis, in dem es gefährlich war, Schwarz und eine Frau zu sein, geschweige denn beides. Die lebte in einer Zeit, in der der 2. Weltkrieg Amerika veränderte. Miriam und August, die groß wurden unter starken Schwarzen Frauen, in einem Memphis, das sich im Aufbruch befand, die Schwarze Bürger*innenrechtsbewegung für Gleichheit kämpfte. Schließlich Joan und Mya, die in einem veränderten Memphis aufwachsen, einem auf eine andere Art gefährlicheren: Straßen, die einst erfüllt waren von Leben und Bluesmusik, gelten nun als gefährlich, unter der Hand einer der Drogengangs. Über die Generationen hinweg prägen Rassismus und Sexismus, Kriege und Veränderungen das Leben der North-Frauen, jede hat ihren Kampf zu kämpfen. Doch diese Frauen sind besonders, lassen sich nicht unterkriegen, ertragen Leid und Schmerz und Verlust, Gewalt und Sorgen. Gehen ihren Träumen nach, sei es eine Ausbildung zur Krankenschwester oder Joans sehnlichster Wunsch, eines Tages von ihrer Kunst leben zu können.

»Die Geschichte hatte mir die Tatsache bewusst gemacht, dass Rassismus eine Nahrung ist, nach der es Amerika gelüstet.«

»Memphis« hat mich zutiefst berührt. Bereits die erste Seite hat mir Tränen in die Augen getrieben und dies war bei Weitem nicht das letzte und einzige Mal. Dieser Roman ist ein Geschenk. Ein Lobgesang auf das Leben Schwarzer Frauen. Auf ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er ist Sichtbarkeit und Schmerz, zeiten- und generationsübergreifend. Er ist eine Liebeserklärung an Memphis über die Zeiten hinweg, eine Stadt der Südstaaten, eine Stadt mit Geschichte, der Sklaverei, eine Stadt des Umbruchs, der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung, der Schwarzen Bevölkerung. Eine Stadt mit den schönsten und den hässlichsten Seiten. Eine Stadt voller Menschen. Indem die Geschichte über die Jahrzehnte hinweg immer wieder springt zwischen Hazel, Miriam, August und Joan, erzählt »Memphis« so viele Geschichten. Über Veränderungen und Liebe. Es ist eine Geschichte über den Zusammenhalt einer Community, über so viele starke, mutige Schwarze Frauen, die egal der Umstände für einander da sind, mehr sind als nur Nachbarschaft. Es ist eine Geschichte über häusliche, psychische, physische und sexuelle Gewalt in so vielen furchtbaren Ausprägungen und Formen. Aber auch eine Geschichte über Familie, Schwesternschaft, weiblichen Zusammenhalt, Stärke, Mut, Liebe. Über die Opfer, die Mütter für ihre Kinder bringen, über die Liebe, die sie ihnen entgegen bringen und das Leid, mit dem sie lernen müssen, zu leben. Und gleichzeitig ist es eine Geschichte über die Männer im Leben dieser Frauen: die guten wie die schlechten. Die liebenden Ehemänner, die brutalen Ehemänner. Männer, die gekommen und gegangen sind, Männer, die in viel zu vielen Kriegen viel zu viel Leid ertragen haben, manche von ihnen daran zerbrochen. Und damit ist es auch eine Geschichte der Welt. Erschreckend, wie nah einschneidende Momente wie der 2. Weltkrieg, der tiefgreifende Rassismus und Segregation in den Südstaaten, Schwarze Bürger*innenrechtsbewegung und 9/11 doch beieinander liegen. Erschreckend, wie viel passiert ist und wie wenig. In all diesem Chaos, das das Leben schreibt, sind so unendlich viele Individuen wie die North-Frauen, die leben. Die lieben, leiden, sterben, geboren werden, Schmerz erfahren, Freude schenken, an Träume glauben, Hoffnung haben, weitermachen. Ich hätte das Leben der Frauen in »Memphis« gerne noch weiterbegleitet. 

» ›Frei?‹ Ihr Lachen war spitz und von derselben Bitternis erfüllt, wie als ich sie nach Gott gefragt hatte. ›Eine Schwarze Frau kennt die Bedeutung dieses Wortes nicht, meine Liebe.‹ «

Geschichten wie diese sind so wichtig. Sie schenken Sichtbarkeit, Verständnis, Einblick und Hoffnung auf eine Welt, in der Hautfarbe, sexuelle Orientierung und Geschlecht endlich keine Rolle mehr dabei spielen dabei, wer als Mensch gilt und behandelt wird. In diesem Zusammenhang möchte ich auch besonders den sensiblen, verantwortungsvollen und durchdachten Umgang mit Worten, Sprache und Geschlecht durch die Übersetzerin Marion Kraft betonen. 

Bitte lest dieses Buch. Es wird weh tun, so weh tun. Aber es wird auch heilen und euch so viel geben. 

»Und sie war so sehenswert. Ihre Haut hatte die Farbe des späten Abends. Ich stellte mir vor, sie zu malen. Ich wollte ihre langen Arme und Beine ganz genau darstellen, ihre hohen Wangenknochen. Ich wollte sie zu Papier bringen. Sie darauf leben lassen. Ein Beweis Schwarzer Schönheit. Ich wollte, dass die Welt das sah und sich schämte.«




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Daten zum Buch
Titel: Memphis
Autor*in: Tara M. Stringfellow
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Marion Kraft
Verlag: Ecco
Hardcover | 336 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0080-0

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