Rezension zu »Babel« von R. F. Kuang

»Ich glaube, darum geht es beim Übersetzen. Darum geht es beim Sprechen. Einander zuhören und versuchen, an den eigenen Vorurteilen vorbeizugucken, um einen Blick auf das zu erhaschen, was der andere einem sagen will. Ein Stück von sich selbst preisgeben und hoffen, dass jemand anders es versteht.«

1829 breitet sich die Cholera Stück für Stück in Asien aus, bis sie die chinesische Haftenstadt Kanton erreicht, für unzählige Menschen bringt sie den Tod. Krank und geschwächt neben seiner toten Mutter liegend findet der englische Professor Richard Lovell den kleinen Jungen, der alsbald zu Robin Swift werden wird. Er rettet ihn und nimmt ihn mit nach England. Lässt ihm eine vertiefende sprachliche Ausbildung zu kommen, in die sich der geschichtenliebende und sprachbegabte Robin nur zu gerne stürzt. Robin verbringt Jahre mit der Nase in Büchern, lernt Latein und Altgriechisch, verbessert sein Englisch und erhält sich sein Chinesisch. 1836 ist es so weit, das Ziel der intensiven Ausbildung ist erreicht: Robin erhält ein Stipendium und wird fortan die nächsten Jahre in Oxford studieren, ein Privileg, das nur wenigen zu teil wird. Oxford, das Zentrum allen Wissens und des Fortschritts. Denn in Oxford befindet sich der Babel, das Königliche Institut für Übersetzung. Ein Turm, prachtvoller als jedes andere Gebäude Oxfords. Der Ort, der Zentrum und Herzstück der gesamten Macht des britischen Empires ist. Dort soll Robin seine sprachlichen Fähigkeiten weiter schärfen, um diese später zugunsten des Empires einzusetzen. Für den Waisenjungen aus ärmlichen Verhältnissen ist der Zutritt zu Babel und allem, wofür es steht, eine Eintrittskarte ins Paradies. Er und der Rest seines Jahrgangs – der indische Student Ramy, die britische privilegierte Letty und die aus Haiti stammende farbige Victoire – stürzen sich voller Leidenschaft und Hingabe in diese ehrenvolle, zeit- und nervenaufreibende Bestimmung. Und werden ganz nebenbei unzertrennliche Freund*innen. Doch nach und nach zeigen sich Risse im Glanz Babels: Ist Babel wirklich  das Paradies oder doch ein Gefängnis? Kann ein einzelner Student es aufnehmen mit der gesamten Macht des britischen Empires?

Es fällt mir nicht leicht, »Babel« zu beschreiben. Denn dieses Buch ist so unfassbar vieles. Bei dem Versuch, Worte zu finden, die diesem beeindruckenden Werk gerecht werden, habe ich viele Rezensionen gelesen, die widersprüchlicher nicht hätten sein können. Ich kann verstehen, dass einige sich unter dem Fantasy-Aspekt mehr/etwas anderes erwartet haben, wahrscheinlich war der Vergleich mit der »Harry Potter«-Reihe einfach problematisch und hat falsche Erwartungen geweckt. Doch für mich war's perfekt. Genau die richtige Menge an Magie, die künstlerische Freiräume schafft und auf eine abstraktere, fiktionale Weise für ein Problem steht, das in seiner realen Gänze schwer zu ertragen ist. »Babel« erzählt gleichzeitig die Geschichte eines fiktiven jungen Mannes und die äußerst reale, brutale Geschichte des britischen Empires. Ich persönlich hab es sehr gerne, wenn sich (geschichtliche) Realität und Fiktion (mit phantastischen Elementen) vermischen, erst recht, wenn es auf eine derart gelungene Art und Weise geschieht. Ich habe gefühlt mit Robin, anhand dem Gewalt und Auswirkungen des Kolonialismus auf die kolonialisierten, unterdrückten, marginalisierten Personen verbildlicht wurde – auf eine feinfühlige, differenzierte und umfassende Weise. »Babel« handelt von Menschen und von Geschichte. Der Roman behandelt die Komplexität von Freundschaft, Liebe, Familie, Akzeptanz, Verrat, Leid, Schmerz, Pflicht- und Verantwortungsgefühl ebenso wie die Auswirkungen der industriellen Revolution auf Gesellschaft und Welt sowie den Kolonialismus mit all seinen Gräueltaten und den daraus resultierenden, tiefgreifenden Wurzeln von Rassismus sowie den, eng damit verknüpft, aus dem Patriarchat begründeten Sexismus. Schließlich und zeitgleich ist »Babel« eine Liebeserklärung an die Magie und die Kraft der Sprache ebenso wie eine Erinnerung daran, welche Macht von Worten ausgeht. Die Ausführungen zu Etymologie fand ich persönlich mehr als faszinierend, unfassbar gut recherchiert und verständlich. Ich habe viel dazugelernt, gemerkt, dass all die Jahre des Englisch, Französisch und Lateinlernens ihre Spuren in meinem Kopf hinterlassen haben. Jeder Bereich dieses Romans – die persönliche Entwicklung der Figuren, die Sprach- und Translationswissenschaft, die Magie, der historische Kontext des Kolonialismus und der industriellen Revolution – ist für sich einnehmend und ergibt in seiner Gesamtheit ein wirkungsvolles, kraftvolles Bild, das ich mit Sicherheit nicht vergessen werde. Knapp 200 Jahre später haben die tatsächlichen historischen Ereignisse, die in »Babel« thematisiert werden, Aus- und Nachwirkungen in nicht zu ermessendem Ausmaß hinterlassen. 

Ich glaube, das persönliche Empfinden ist bei »Babel« noch stärker präsent und ausschlaggebend als bei anderen Büchern. Man muss sich darauf einlassen. Dieser Mix aus Phantastik, Geschichte, Gesellschaftskritik und Sprache ist sicher nicht für alle das Richtige. Für mich war es das Richtige. Trotz der Fülle, der Länge habe ich diesen Roman sehr schnell gelesen, es war leicht mich in den Seiten, der Erzählung zu verlieren. »Babel« ist gigantisch, komplex, faszinierend, fesselnd, rührend, schmerzend, magisch, grausam und für mich ein Meisterwerk. 




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Daten zum Buch
Titel: Babel
Autor*in: R. F. Kuang
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Heide Franck und Alexandra Jordan
Verlag: Eichborn
Hardcover | 736 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0143-3

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