Rezension zu »Verschwinden in Lawinen« von Robert Prosser

»Wozu fortgehen; ob dieses oder ein anderes Dorf, man musste über die Runden kommen, das galt in jedem Tal und in einer Stadt sicherlich auch, und sie wusste es ebenso gut wie er selbst.«

Ein Bergdorf in Tirol. Klein, fast vergessen, zurück gefallen in der Zeit, auf seine Art etwas abgeschottet vom Rest der Welt. Es ist Winter. Der Schnee liegt hoch, die Tage sind kurz und dunkel. Die Berge wirken fast bedrohlich, wissen um das Unheil, das kommen wird. Zwei einheimische Jugendliche werden von einer Lawine erwischt. Das Mädchen, Tina, kommt schwer verletzt mit dem Leben davon. Ihr Freund Noah bleibt verschwunden. Ein Wettlauf gegen die Zeit, weiß das ganze Dorf und beginnt die mühsame Suche, die Hoffnung Noah lebend zu finden schwindend mit jeder Stunde, die verstreicht. Weiß auch Xaver, Tinas Onkel, der sich auf eigene Faust auf die Suche macht. Die Suche, die Situation wirft Xaver zurück in die Vergangenheit, konfrontiert ihn mit seiner zerrütteten Familiengeschichte. Denn einst, vor langer Zeit, machte er sich als Junge schon einmal auf in die Berge, um jemanden zu finden, zu bergen, vielleicht zu retten. Zusammen mit seiner Mutter, auf der Suche nach seinem Großvater, erfolglos. Tage später wird er durch die Hilfe eines in den Bergen zurückgezogen lebenden Wunderheilers tot geborgen. Seitdem wird Xaver geplagt von dem Wissen, damals die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Hätte Xaver seinen Großvater retten können? Hätte er seine Familie retten können, die daran zerbrochen ist? Dieses Mal will er die richtige Entscheidung treffen, sich beweisen. Nur wem gegenüber? 

Ich habe mich auf »Verschwinden in Lawinen« eingelassen, ohne so recht zu wissen, was mich erwarten wird und wurde trotzdem überrascht. Ich rechnete mit einer Geschichte über die Suche nach einem verschütteten Kind und bekam eine Geschichte über Xavers Suche nach sich selbst. »Verschwinden in Lawinen« ist eine einzige, vielschichtige Suche nach Antworten auf Fragen, die uns alle beschäftigen: Wer wollen wir sein? Wo ist der eigene Platz in einer Familie, einer Gesellschaft? Wie funktioniert eine Familie, Gesellschaft? Welche Regeln, Grenzen gelten wann und wo und was, wenn man sie überschreitet? Wie viel Nähe lassen wir zu, wie viel Distanz brauchen wir? Wann kommt uns unser Stolz in die Quere? Können wir Glück finden selbst dann, wenn Glück nicht mehr greifbar erscheint? Was ist für uns Glück? Was wollen wir von uns selbst, anderen, dem Leben? Wir tauchen ein in Xavers seelisches Innenleben, in seine Familiengeschichte und in die Geschichte dieses Bergdorfes, gespalten zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen Mythen und Globalisierung. Ein Kampf ums Überleben für Noah, Xaver, den ganzen Ort. Untermalt von einer naturgewaltigen Kulisse und einer rauen, stimmungsschweren Sprache. 

»Verschwinden in Lawinen« schafft gleich zu Beginn eine düstere, unheilvolle, gewichtige Stimmung und Spannung, die sich bis zur letzten Seite durch das Buch zieht und die Lesenden gefangen hält. Es ist eine Geschichte über die menschliche Natur, Stolz, Zusammenleben und Familie. Zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zwischen Folklore und Modernität, zwischen Glück und dem Streben danach, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Menschlichkeit und Grausamkeit. »Verschwinden in Lawinen« ist die Momentaufnahme einer Zeit, eines Ortes, eines Gefühls. Chance und Verderben. Vor der beeindruckenden Kulisse von Bergen und Natur in all ihrer Gewalt. 




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Daten zum Buch
Titel: Verschwinden in Lawinen
Autor*in: Robert Prosser
Sprache: Deutsch
Verlag: Jung & Jung
Hardcover | 192 Seiten | ISBN: 978-3-99027-273-2

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