Rezension zu »Die Kinder sind Könige« von Delphine de Vigan

In ihrer Kindheit und Jugend war Mélanie begeisterte Zuschauerin von Reality-Formaten wie »Big Brother«, die Teilnehmenden regelrechte Stars für sie. Ein Leben, das von abertausenden Augen verfolgt, begleitet, geliebt und auch beneidet wird, das war immer Mélanies Traum. Doch ihr eigener Versuch sich einen Namen als Reality-Star zu machen, scheiterte. Eine Enttäuschung, über die sie nie ganz hinweg kam. Bis es ihr am Ende dann doch gelang, Social Media sei Dank. Ihr Familienblog, in dem die beiden Kinder Kimmy und Sammy im Zentrum stehen, ist schon lange mehr als bloßer Spaß und Zeitvertreib. Hunderttausende Menschen abonnieren und verfolgen das Leben der Familie auf YouTube und Instagram und Mélanie gibt bereitwillig Einblick, rückt selbst immer mehr vor die Kamera, geht auf in der lang ersehnten Aufmerksamkeit. Dass es sich bei »Happy Récré« inzwischen um einen Fulltime-Job und die Haupteinnahmequelle der Familie handelt ist nur ein weiterer Pluspunkt für Mélanie, die endlich das Luxus- und Starleben führen kann, das sie für sich vor langer Zeit auserkoren hatte. Dass dieses Leben vor der Kamera seinen Tribut an den Kindern fordert, die kein wirkliches Privatleben oder gar Freizeit mehr haben, sieht Mélanie nicht. Auch nicht, dass die kleine Kimmy immer unwilliger beim Dreh der Videos ist, sich immer mehr zurück zieht und versteckt hinter ihrem großen Bruder Sammy. Dass ihre Tochter, dass irgendjemand all die Liebe und Aufmerksamkeit von Fremden aus dem Internet gar als Last ansehen könnte ist ihr fremd. Als Kimmy nach einem Versteckspiel mit Kindern aus der Nachbarschaft spurlos verschwindet kommt so manche unliebsame Wahrheit ans Licht. 

Die Polizistin Clara hat keine Berührungspunkte mit der Welt, die online stattfindet. Sowohl ihre Arbeit als auch ihr Privatleben findet im Verborgenen statt, sie schätzt ihre Privatsphäre. Umso erschreckender, beunruhigender und faszinierender findet sie ihren neuen Fall: Kimmy Diore ist verschwunden und Clara Teil des Ermittlungsteams. Sechs Jahre alt und ein Internetstar mit abertausenden Fans und einem Leben, das vor den Augen all derer stattfindet, die sich dafür interessieren. Schnell wird Clara und dem Rest des Teams klar, dass ihre bisherigen Ermittlungsmethoden in dieser virtuellen Welt, die sich doch immer mehr mit der Realität vermischt, in diesem Fall nicht weiterhelfen: Die Liste an Verdächtigen ist so groß wie die Liste derer, die Kimmy, Sammy und Mélanie kennen. Je tiefer Clara in die digitale Welt und den Kanal »Happy Récré« eintaucht und sich über die rechtliche und aktuelle Lage von Kinder-Influencer*innen einarbeitet, desto bestürzter ist sie von der Ausbeutung, die diesen Kindern widerfährt und den gravierenden Auswirkungen, die dieses Leben vor der Kamera in den Psychen der Kinder nach sich ziehen kann. Langsam aber sicher muss sich Clara die Frage stellen: Was, wenn sie Kimmy finden? Bringen sie sie wirklich zurück in ein sicheres Zuhause? 

»Die Kinder sind Könige« hat mich von der ersten bis zur letzten Seite für sich eingenommen. Geschrieben wie ein True Crime Bericht zieht es die Lesenden in seinen Bann, nimmt uns mit auf in eine Welt, die durch eine auf Konsumgier, Voyeurismus, Aufmerksamkeits- und Geltungsdrang aufgebauten Gesellschaft existieren und florieren kann. Die wechselnden Perspektiven von Mélanie und Clara, die Auszüge aus den Ermittlungsakten der Polizei entwerfen einen tiefgehenden Einblick in die Welt der Figuren. »Die Kinder sind Könige« endet nicht mit dem Wiederauffinden von Kimmy, endet nicht mit einem Happy End. Es geht weiter und zeigt, was Jahre nach den Geschehnissen aus den Figuren geworden ist. Zeigt die tiefen Narben, die dieses Leben vor den Augen einer anonymen, unsichtbar bleibenden und doch immer spürbaren Zuschauer*innenschaft in Kimmy und Sammy verursacht hat. 

»Die Kinder sind Könige« ist ein durch und durch gesellschaftskritischer, awareness-kreierender und doch leicht zu lesender Roman über ein sehr ernstes und vielschichtiges Thema. Anhand der Figur der Mélanie zeigt der Roman auf, wie sich ein Mensch in der Welt der Social Media verlieren kann, indem er sein Selbstwertgefühl, seine Bedeutung, ja sein ganzes Leben nur an der Menge an Follows, Likes und Interaktionen festmacht. »Wenn du online nicht gesehen, nicht geliebt wirst, bist du niemand. Je mehr du online von dir gibst, desto mehr Liebe und Aufmerksamkeit wirst du bekommen. Sei dankbar, Reichweite ist Atemluft.« ist die Devise, die Mélanies gesamten Handlungen zugrunde liegt. Und die sie unweigerlich, unüberlegt auf ihre Kinder überträgt. Denn ihre süßen kleinen Kinder kommen an im Internet. Und dadurch auch Mélanie, ist sie doch die Mutter, ihre Kinder nur eine Erweiterung ihrer selbst. Wie viel langfristiger Schaden damit angerichtet wird, in allen Beteiligten. Man kann nicht anders als Mélanie sowohl für das zu verachten, das sie ihren Kindern antut, als auch sie zu bemitleiden, für das, was sie sich selbst antut. Und nicht nur sie. Da draußen, im realen Leben, gibt es viele, die nicht nur jedes Detail aus ihren eigenen Leben mit einer anonymen Masse teilen aus dem Bedürfnis heraus, gesehen und nicht vergessen zu werden, sondern dasselbe mit ihren Kindern machen. Die als Vormund Entscheidungen treffen, die sie für richtig halten. Wer möchte schon als (junge*r) Erwachsene*r feststellen, dass Millionen Menschen das erste Mal auf dem Töpfchen gesehen haben? Wer will schon eine Kamera vorgehalten bekommen, jedes Mal wenn man eigentlich nur mit seinem Geschwisterchen spielen möchte? Wer will schon dazu aufgefordert werden, fremden Menschen virtuelle oder gar reale Küsschen zu geben, denn schließlich sind das Fans und man hat dankbar zu sein? Es ist erschreckend, es ist furchtbar und es ist eine Sucht für so viele. Eine Sucht und eine Gefahrenquelle, vor allem für Kinder, über die noch nach wie vor zu wenig gesprochen wird. 

»Die Kinder sind Könige« hat mir thematisch eine ganz neue, bedenkliche Welt eröffnet, derer wir uns alle bewusst sein sollten. Auf eine so unterhaltsame, fesselnde Art und Weise, das ich euch nur raten kann: Lest dieses Buch!




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Daten zum Buch
Titel: Die Kinder sind Könige
Autor*in: Delphine de Vigan
Sprache: Deutsch
Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann
Verlag: DuMont
Hardcover | 320 Seiten | ISBN: 978-3-8321-8188-8

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