Rezension zu »Bring mich nach Hause« von Jesús Carrasco

»Das liegt dem Denken seiner Mutter zugrunde: dass es die Pflicht der Kinder ist, sich um die Eltern zu kümmern, selbst wenn das heißt, dass sie auf ihr eigenes Leben verzichten müssen, so wie sie und ihr Mann es mit ihrem gemacht haben. Und auch, dass die Grenzlinie dieses Verzichts der Tod ist, und es daher nur um einen Aufschub des eigenen Lebens geht.«

Vor Jahren hat Juan sein altes Leben in Spanien von einem Tag auf den anderen hinter sich gelassen: Nach einem ungeklärten Streit mit seinen Eltern verließ er sein kleines, aus der Zeit gefallenes Heimatdorf, zog nach London und fing ein neues Leben an. Eines, das nur ihm gehörte. Ohne Verpflichtungen und Hoffnungen anderer. Kontakt zu seinen Eltern und seiner Schwester in Spanien hat er kaum. Denn es warten doch nur Vorwürfe auf ihn, sein selbst bestimmtes Leben ist ein Dorn im Auge seiner traditions- und pflichtbewussten Eltern, die von ihm erwarten, zurück zu kehren und die schwächelnde, fast tote Firma seines Vaters zu übernehmen. Als sein Vater stirbt, hat Juan keine Wahl, muss für die Beerdigung zurück in sein einstiges Zuhause. Sein Plan ist simpel: Die Beerdigung überstehen ohne die zerrütteten Familienverhältnisse zu intensivieren oder aufzuarbeiten und so schnell wie möglich wieder zurück in sein Leben, das Rückflugticket immer wie ein Rettungsanker in der Hosentasche. Doch es kommt anders als erhofft. Die Entfremdung zu seiner Mutter und seiner Schwester ist tiefer als gedacht, sie schweigen oder sie streiten, dazwischen existiert nichts. Er erfährt, dass seine Mutter an Alzheimer erkrankt ist und dass seine Schwester, die sich bisher um die Eltern gekümmert hat, ein Jobangebot in den USA angenommen hat. Jetzt sei er an der Reihe, nach Hause zu kommen, Verantwortung zu übernehmen, sich um die kranke Mutter zu kümmern. Widerwillig bleibt Juan, hofft noch immer auf eine baldige Rückkehr in seine Normalität. Und muss sich langsam aber sicher seiner neuen Realität stellen. Akzeptieren, wie es um den Gesundheitszustand seiner Mutter bestellt ist. Sich ihr wieder annähern, alte Wunden heilen lassen und die Person kennenlernen, die für ihn immer hinter der Mutterrolle verborgen blieb.

»Sie schweigen, jeder für sich verloren an einem unbestimmten Ort.«

In den letzten sechs Jahren habe ich drei Viertel seiner Großeltern verloren, habe Krankheit, Demenz und Alzheimer, unzählige Krankenhausaufenthalte mitbekommen, habe gesehen, welche Auswirkungen dies teilweise auf die seelische Verfassung meiner Eltern hatte. Es hat mir etwas vor Augen geführt, das ich so gerne verdrängen möchte: Dass auch meine Eltern altern werden, früher oder später auf Hilfe angewiesen sein werden. Werde ich das Gefühl haben, mich um sie kümmern zu müssen, selbst wenn sie das nicht wollen? Wie wird mein Bruder dazu stehen? 

»Bring mich nach Hause« ist ein literarischer, schwermütiger Roman über Familie, Verantwortung und Pflichtgefühl, Einsamkeit und Hilflosigkeit, der genau diese Fragen stellt. Er wirkt über die Distanz und die dadurch entstehenden Differenzen und Streitpunkte zwischen Juan und seiner Schwester, über eine leise Annäherung aller Familienmitglieder, über den Versuch einer Akzeptanz. Gleichzeitig wirft er einen kritischen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Probleme der spanischen Provinz: mangelnde Alters- und Gesundheitsvorsorge, unzureichende Gesundheitsvorschriften, Armut und Geldnot, Verwahrlosung und Rückschrittigkeit der Dörfer. Im Zentrum steht die Frage, was Familie verlangen darf, was passiert, wenn die Kinder erwachsen und die Eltern alt werden. Ist es Pflicht der Kinder, sich um die Eltern zu kümmern, wenn diese alt werden, egal welche Einschränkungen, welchen Verzicht dies für ihre eigenen Leben bedeutet? Darf man diese Aufopferungsbereitschaft voraussetzen, einfordern, erzwingen? Welchen Einfluss haben die Denkweisen der verschiedenen Generationen, wie bringt man diese auseinandergehen, sich widersprechenden Auffassung von Familie und Pflicht überein? »Bring mich nach Hause« war emotional keine leichte Kost, aber eine, bei der ich froh bin, sie gelesen zu haben. Der Roman gab und nahm mir Hoffnung, hat mich zum Nachdenken gebracht. Das mochte ich. 




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Daten zum Buch
Titel: Bring mich nach Hause
Autor*in: Jesús Carrasco
Sprache: Deutsch
Aus dem Spanischen übersetzt von Silke Kleemann
Verlag: Eichborn
Hardcover | 288 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0120-4

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