Rezension zu »In der ersten Reihe sieht man Meer« von Volker Klüpfel und Michael Kobr

»Die Geschichte meiner sonderbarsten Reise beginnt wie alle anderen Reisen unserer Familie, an die ich mich erinnere: mit Geschrei, Gezeter und dem festen Vorsatz, nie wieder einen solchen Urlaub anzutreten.«

Alexander ist erfolgreich im Marketing-Geschäft tätig, hat eine wunderbare Ehefrau und zwei aktuell nicht so wunderbare Kinder im Teeanger-Alter. Momentan ist Alexander gut gestresst, denn der jährliche Familien-Sommerurlaub steht bevor. Dieses Jahr soll es ein ganz Besonderer werden: Anstatt wie sonst samt Frau und Kindern an die exotischsten Orte der Welt zu fliegen, geht es dieses Mal back to the roots: Ein Urlaub mit dem Auto an die Adria. Samt Alexanders Schwester und den Eltern. Wie damals in den 1980ern als für Alexanders Familie der erste große Urlaub außerhalb des deutschsprachigen Sprachraums stattfand. Als Alexander am Abend vor der Abreise auffällt, dass die Ausweise noch fehlen, macht er sich auf die Suche und begleitet von dem ein oder anderen Glas Wein taucht er ein in Familienfotos und -erinnerungen. 

Am nächsten Morgen wird er von seinen Eltern geweckt. »Was machen die denn schon hier?« fragt er sich. Und: »Warum sehen sie so jung und gut aus?« Alexander braucht ein wenig – Verdrängung und Akzeptanz finden eben nicht von Jetzt auf Gleich die Waage – bis ihm dämmert: Nicht nur seine Eltern und seine Schwester sehen bedenklich jung aus, sondern auch er. Alexander findet sich im Körper seiner pickeligen, etwas moppeligen Teeanger-Version wider. Zurück in die Vergangenheit, die 1980er erwarten ihn. Und damit auch der erste große Familienurlaub in die Fremde Italiens. Zeit, dies zu verarbeiten, hat er nicht so wirklich, denn ehe er sich's versieht sitzt er samt Schwester, Eltern und Oma im vollgepackten Ford Sierra Richtung Adria. Mit dem Wissen des 21. Jahrhunderts fällt es Alexander schwer, die Vorurteile, Ängste und Sorgen der 80er Jahre zu verstehen: Wer nimmt schon selbstgemachte Marmelade, Wurst und Weißkohl mit in den Italienurlaub? Seine Familie, weil man dem italienischen Essen ja prinzipiell nicht trauen kann. Und der italienischen Bevölkerung noch viel weniger. Deswegen muss das Auto auch zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort bewacht werden. Alexander sticht heraus mit seiner weltoffenen Art ohne Berührungspunkte, seine Familie fängt an, sich über den Teenager zu wundern, der weder spricht noch sich verhält wie einer. Aber gut, es ist ja schließlich Urlaub. Während seine Familie die Zeit damit verbringt, so rot wie nur möglich von der Sonne gebraten zu werden, ist Alexander auf der Suche nach einem sinnvolleren Zeitvertreibt. Und findet ihn im kleinen, unscheinbaren italienischen Imbissstand am Stand, dem er mit seinen damals vollkommen unbekannten, weil noch nicht erschlossenen Marketing-Strategien zum Erfolg verhelfen möchte. Ob das gut geht? Und ob Alexander wieder in seine Zeit zurückfindet? Findet's raus.

Zur Abwechslung hab ich mal gar nicht so viel zu sagen, weil dieser grandiose Roman für sich selbst spricht. Der Titel ist genial, die Charaktere genug überspitzt, um unterhaltend zu sein, und gleichzeitig realistisch genug, um permanent den Kopf zu schütteln. Prinzipiell ist die Story von »Mann*Frau wacht in der Vergangenheit auf und muss sich zurechtfinden« ja so wirklich nichts Neues. Aber: Diese Umsetzung ist's definitiv. Weil nichts Großes, Bewegendes passiert, sondern zugleich das Schlimmstmögliche: ein Familienurlaub. Wer kennt es nicht? All das Streiten, die Verzweiflung, sodass man danach eigentlich erst so richtig einen Urlaub braucht. Und trotzdem macht man's jedes Jahr auf Neue. Perfekt untermalt wurden die einzelnen Kapitel durch Fotos aus den Familienurlauben aus dem persönlichen Fundus der beiden Autoren – eine wirklich klasse Idee!

Kurzum: »In der ersten Reihe sieht man Meer« war einfach nur wunderbar. Und lustig. Und unterhaltsam. Und Fremdschämen pur. Es war mir eine absolute Freude! Perfekt für den Urlaub, perfekt für Zuhause, leicht und locker und gleichzeitig so viel. Unterhaltung und Authentizität pur – trotz Zeitreise.

Warnung: »In der ersten Reihe sieht man Meer« kann zu plötzlichen, unkontrollierten und lauten Lachanfällen führen, Schütteltrauma vom permanenten Kopfschütteln inklusive.




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Daten zum Buch
Titel: In der ersten Reihe sieht man Meer
Autor*in: Volker Klüpfel und Michael Kobr
Sprache: Deutsch
Verlag: Droemer Knaur
Hardcover | 320 Seiten | ISBN: 978-3-426-19940-4

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