Rezension zu »Raue Wasser« von Rebecca Pert

»Was macht es schon, wenn ich keine Bindung zu dem Baby verspüre? Sie ist satt, sie hat es warm, sie lebt. Ich liebe sie nach wie vor nicht, aber wenigstens stört sie mich nicht, es macht mir nichts aus, wenn sie still ist und mich anstarrt.«

Nach Jahren der Flucht kehrt Jane Douglas zurück auf die Shetlandinseln, der Ort, von dem sie stammt. Der Ort, an dem sie als Hannah geboren wurde. Ein rauer, stürmischer Ort der Naturgewalten, an dem das Wetter und die Naturgegebenheiten über das Leben der wenigen Menschen bestimmen, die in dieser Gegend leben. Ein Ort, den Jane Zuhause nennen sollte, der für sie aber vor allem eines ist: Ort ihres Traumas. Vor 20 Jahren starb ihr kleiner Bruder, ihre Mutter gilt seitdem als vermisst. Gerüchte ranken um Janes Familie. Jetzt, nach ihrer Rückkehr und nach so vielen Jahren, ist sie fast so etwas wie glücklich: Sie hat eine Arbeit, die zwar keine Freude bereitet, aber genug Geld einbringt, um ein sorgloses Leben zu führen. Eine gute Beziehung mit einem Mann, der sie liebt. Und das Kindheitstrauma ist überwunden, muss es sein. Doch Jane lebt in einem Wohnwagen, neben dem inzwischen heruntergekommenen Cottage ihrer Familie. Jane kann das Haus ihrer Kindheit nicht betreten, will es nicht. Doch verkaufen kann sie es auch nicht. Jane mag zufrieden sein mit dem, was sie hat, und doch führt sie kein richtiges Leben. Sie ist gefangen in einer Warteschleife. Nicht dazu fähig, die Vergangenheit ruhen zu lassen, und nicht bereit für die Zukunft. Bis die Polizei vor Janes Tür steht. Man habe einen Hinweis auf den Verbleib und Todesort von Janes Mutter gefunden, man suche nach dem Leichnam. Wenige Worte und doch reichen sie aus, um Janes fragiles Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Die Vergangenheit, all die verdrängten Erinnerungen kommen wieder an die Oberfläche und Jane glaubt, den Verstand zu verlieren. Obwohl sie Angst vor dem Ende hat, nicht bereit ist, sich der Wahrheit ihrer Kindheit zu stellen, beginnt Jane, die Tagebücher ihrer Mutter zu lesen: Fast ein Jahrzehnt der Erinnerungen warten auf sie. Von ihrer Mutter als Jugendlicher über die Geburt von Jane und ihrem Bruder bis hin zu dem Tag, der alles für immer verändern sollte. Und während Jane Angst gleichzeitig davor hat, bereits so zu sein wie ihre Mutter, Angst hat vor der Wahrheit, so kann sie den Aufzeichnungen ihrer Mutter doch nicht widerstehen. Nach und nach fängt sie an, ihr eigenes Schicksal zu verarbeiten und zu verstehen. Auch wenn sie ihr eigenes Leben dafür in Stücke brechen muss.

»Und manchmal liege ich nachts wach, während Bobby neben mir schnarcht und die Schafe in ihren Winterquartieren blöken, und dann spüre ich mein wahres Ich, meine wahren Gefühle, die Einsamkeit, die Falschheit, auch wenn es wehtut, und weine mich in den Schlaf. Wie um alles in der Welt soll ich es ohne meine Pillen schaffen?«  

Mutter und Tochter, zwei Leben, für immer vereint, verbunden und verknüpft: Jane, die versucht, sich zu befreien von der Last der Vergangenheit und sich doch gleichzeitig so sehr davor fürchtet, die Krankheit ihrer Mutter schlummert auch in ihr, wartend, lauernd, bereit auszubrechen und zuzuschlagen. Und Janes Mutter, krank und, gemäß der Ignoranz gegenüber psychischen Krankheiten und der Gesundheit von Frauen zwanzig Jahre zuvor, alleingelassen. Abgespeist mit Tabletten, nicht ernst genommen in ihrem Leiden. Leben, die man hätte retten können. »Raue Wasser« erzählt eine bewegende Geschichte über Familie, über Traumata, Verdrängung und Verarbeitung, eine Geschichte über psychische Krankheiten und deren Folgen auf die Betroffenen und die, die mit ihnen leben, sie lieben. Wie können wir verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt? Wie können wir verhindern, dass sie uns einholt, überschwemmt, mit sich spült? Wie können wir aufpassen auf uns, unsere Körper und Seelen? Wie können wir uns vor jemandem beschützen, der eigentlich uns beschützen sollte? Was, wenn wir unsere Kinder nicht lieben können? Was, wenn wir psychisch krank sind und niemand uns ernst nimmt, uns hilft? Was, wenn jede Hilfe bereits zu spät kommt? Schwerwiegende, schwermütige und doch so wichtige Fragen, die »Raue Wasser« stellt, versucht, zu beantworten, versucht, zu zeigen. Eingebettet in diese wunderschöne, wilde Kulisse Schottlands. Stürmische Nächte, Tage voller Regen, felsige Kanten, hohe Wellen, saftige Weidewiesen. »Raue Wasser« ist ein faszinierender, eindringlicher, stürmischer Roman. Eine psychologische Reise durch die menschliche Seele, so stürmisch, unberechenbar und unzähmbar wie die See. 




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Daten zum Buch
Titel: Raue Wasser
Autor*in: Rebecca Pert
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Heike Reissig
Verlag: Ecco
Hardcover | 336 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0070-1

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