Rezension zu »Mistral« von Maria Borrély

»Mit ihrem ganzen Gewicht an den Türstock gelehnt, fühlt sich die Marie erdrückt vor Freude, sie zittert vor Scham. Ihr Gesicht ist auf einmal gealtert. [...] Er umfängt sie mit seinem Blick, Körper und Seele. Wie die Luft zum Atmen saugt er das Vergnügen in sich auf, die Rosen ihrer Haut welken zu sehen.«  

Ein kleines, malerisches Dorf, gelegen in den Hügeln der Haut-Provence zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort lebt Marie glücklich und zufrieden im Kreis ihrer Familie. Sie gilt als der Augenstern ihrer Eltern, denn Marie ist fleißig, ruhig und gewissenhaft. Doch gleichzeitig ist Marie auch jung. Und schön. Männer allen Alters im Dorf und den umliegenden Dörfern begehren sie, werben um sie. Doch Marie zeigt an keinem von ihnen Interesse. Bis ihr eines Tages der junge, attraktive und charmante Olivier begegnet. Beide fühlen sich zueinander hingezogen. Unerhört zu der Zeit, kommen sich die beiden rasch näher. Doch schon bald muss Olivier zurück in sein Dorf. Und hinterlässt eine vor Sehnsucht und unerwiderter Liebe niedergeschmetterte Marie, deren Liebeskummer wie eine Naturgewalt über sie und ihre Familie hereinbricht. 

»Hier hat es immer mehr Frauen gegeben als anderswo, die im kritischen Alter den Verstand verlieren, die sich zu ihren Zeiten herumtreiben und sich aufführen.«

Ich glaube, die Autorin war ihrer Zeit mit den in »Mistral« behandelten Themen voraus. Im Original erschien der Roman 1930 zum ersten Mal. Er behandelt und kritisiert Themen wie den Klimawandel und gesellschaftlich untergeordnete Rolle der Frau. Ich denke, die unverhohlene Leidenschaft sowie der Trennungsschmerz von Marie galten zu der Zeit unerhört. Marie fühlt sich mit Haut und Haaren zu Olivier hingezogen und anstatt der Sitte zu gehorchen, gehorcht sie ihren Gefühlen, ihrem Verlangen. Vielleicht ist es ja genau diese geforderte, erwartete Unterdrückung der Leidenschaften, die die Frauen im Ort zu Hauf in den Wahnsinn treibt? 

Trotz dieser vielversprechenden, fortschrittlichen und interessanten Themen und Gedanken habe ich mich leider sehr schwer getan mit »Mistral«. Im Nachwort beschreibt die Übersetzerin Amelie Thoma den Schreibstil von Borrély als »dicht und physisch, dann wieder reich an poetischen Metaphern und doch immer auf der Suche nach klassischer Strenge.« Ich habe den allergrößten Respekt vor der Übersetzerin, ich glaube das war kein leichtes Unterfangen. Und ich denke auch, dass das – Borrélys Stil – mein Problem mit diesem knapp 130 Seiten umfassenden Roman war. »Mistral« lässt mich hin- und hergerissen zurück. Denn ich wollte den Roman mögen, aber ich konnte keine Verbindung zu Marie, dem Schreibstil oder der Geschichte aufbauen. Ich habe das Gefühl, viel von dem, das die Autorin durch ihren eigenwilligen Schreibstil vermitteln wollte, nicht verstanden bzw. überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Es war mir zu literarisch, zu blumig, gleichzeitig zu wenig Handlung. Eigentlich liebe ich ja Naturbeschreibungen – einer der Gründe, warum ich mich vorab so auf dieses Buch gefreut habe. Aber es war mir zu viel, zu dicht gedrängt, zu viel darin versteckt. 

»Leichte Nebelschwaden treiben unten im Licht, milchig, schimmernd. Mit sanft wiegenden Hüften steigen die verliebten Göttinnen zur Sonne hinauf. Die Hügel, in drei Reihen, sind hellsilbern, blaulila, und der Himmel aus hellem Silber, mit einem Schleier aus Sternenstaub.«

Ich glaube, »Mistral« findet eine begeisterte Leser*innenschaft, die diese Geschichte über die Schönheit der Natur und weiblichen Mut mehr als zu schätzen weiß. Ich gehöre nur leider nicht dazu. 




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Daten zum Buch
Titel: Mistral
Autor*in: Maria Borrély
Sprache: Deutsch
Aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma
Verlag: Kanon
Hardcover | 128 Seiten | ISBN: 978-3-98568-069-6

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