Rezension zu »Flamingo« von Rachel Elliott

»Für jeden von uns gibt es Dinge und Menschen, deren Anblick uns zum Schmelzen bringt. Selbst wenn wir gar nicht wussten, dass wir zu Eis erstarrt waren.«

In der Mitte seines Lebens steht Daniel Berry plötzlich vor dem Nichts: Sein Vermieter hat ihm die Wohnung gekündigt, in der Arbeit läuft es schlecht und seine Verlobte hat ihn verlassen. Aus einer bodenlosen Verzweiflung heraus spendet Daniel all seine Habseligkeiten der Wohlfahrt, nur ein kleines Keramik-Schaf darf bei ihm bleiben. Von heute auf morgen wird Daniel obdachlos, verliert den Boden unter den Füßen, lernt Hunger, Kälte, das Sehnen nach Wärme und Nähe und die menschlichen Abgründe kennen. Er fällt in ein immer tieferes Loch. Bis er Zuflucht in einer Bibliothek sucht. Eine Hand auf seiner Schulter, ein warmes, offenes Lächeln einer Fremden rufen in Daniel schließlich eine Erinnerung wach: An ein Haus in Norfolk, an drei Flamingos im Vorgarten und an ein Leben, das er schon fast vergessen hatte. Im Haus lebt die Rentnerin Sherry Marsh, die auf Familienfeiern nichts lieber tut, als laute und schräge Interpretationen von Foreigner-Songs zum Besten zu geben und deren Tochter Rae als eine der besten Kund*innen von FaZ (Fremde auf Zeit), Fremde für deren Gesellschaft bezahlt, weil sie echte Nähe (und erst recht die ihrer Familie) nicht ertragen kann. So macht sich Daniel auf auf eine Reise, von der sich nichts erwartet und doch alles erhofft. Denn dieser Ort, dieses Haus, diese Familie ist für ihn alles: Das Gefühl von einstigem Glück. Und der kleine, unstillbare Funken in seinem Herzen, dort erneut Glück finden zu können. 

»Denn bei Menschen gibt es keinen Rauch mit Feuer. Wir brennen für uns allein, unsichtbar.«

»Flamingo« hat mich überrascht, auf die positivste Art und Weise. Während der ersten 80 bis 100 Seiten hab ich mir etwas schwer getan, habe nicht rein gefunden in die Geschichte. Konnte weder zu Daniel noch zu Rae eine Beziehung aufbauen, habe nicht verstanden, was mir die Geschichte mitteilen will. Doch dann. Unerwartet, unbemerkt kam der Wendepunkt. Je tiefer Daniel eingetaucht ist in seine Familiengeschichte, in seine Erlebnisse in der Kindheit im Haus neben den Marshs, in seine Beziehung zu seiner Mutter, desto mehr habe ich begriffen. Und dann kamen sie. Die Kapitel, die Rückblenden, erzählt aus der Sicht von Daniels Mutter. Dieser Sommer neben und mit den Marshs, der nicht nur für die Berrys alles verändert hat. Dieser Roman ist so leise. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, wenn man hin hört, dann nimmt er einen ein für sich. Erzählt unaufgeregt, tiefschürfend eine Geschichte von Familie, in all ihren Formen. Von Freundschaft und Liebe. Von Elternschaft, von den Opfern, die Eltern für ihre Kinder bringen ohne dass die Kinder je davon erfahren. Von dem Unverständnis, dass Kindern den Entscheidungen ihrer Eltern entgegenbringen, das gerechtfertigte und das, für das sie sich schämen würden, würden sie die Wahrheit kennen. Es ist eine Geschichte über Heimat, über Sehnsucht, über die Hochs und Tiefs eines Lebens. Es ist eine Suche nach dem Glück, ein Trotzen wider aller Umstände. Ein Aufbegehren gegen die Einsamkeit. Es ist die Frage danach, was Menschen zu einer Familie und einen Ort zu einem Zuhause macht. Es ist einfach schön. 

»Es geht im Leben gar nicht darum, jemanden zu finden, der dieselbe Wellenlänge hat wie du, sondern jemanden zu finden, der sich nicht von deinen persönlichen Frequenzen gestört fühlt.«




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Daten zum Buch
Titel: Flamingo
Autor*in: Rachel Elliott
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Feldmann
Verlag: Mare
Hardcover | 432 Seiten | ISBN:978-3-86648-703-1
Anmerkung: gelesen als E-Book via Netgalley

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