Rezension zu »Der weiße Fels« von Anna Hope

 

»Und sie? Was will sie hier, wenn nicht ebenfalls schürfen? Sich am Rohmaterial der Geschichte bedienen und aus den Schmerzen, der Mühsal und den unvorstellbaren Verlusten eine Geschichte formen, die sich verkaufen lässt. Sie ist genauso korrupt wie alle anderen. Genauso ausbeuterisch wie jene, die vor dreihundert, vierhundert oder fünfhundert Jahren auf der Suche nach Gold an diesen Ort kamen.«

2020, irgendwo in der mexikanischen Wüste. Eine 45-jährige Schriftstellerin ist mit ihrem Noch-Mann, ihrer dreijährigen Tochter und einer Gruppe Fremder unterwegs auf einer Pilgerreise. Ihr Ziel: der weiße Fels, von der indigenen Bevölkerung Mexikos als Ursprung der Welt geheiligt. Die Schriftstellerin unternimmt die Pilgerreise, um den Göttern ein Opfer darzubieten, sich für die Geburt ihrer Tochter zu bedanken. Während sie auf Reisen sind, schlägt im Rest der Welt das Corona-Virus zu, die Angst vor dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung ist groß, wie sie den gelegentlichen Nachrichten entnehmen kann, die es in die Wüste schaffen. Doch hier gibt es kein Virus, keine Zivilisation in dem Sinne, kaum WLAN, nur Sand, Sonne, die Wildheit der Natur. Mit ihnen reist ein Priester der Wixárika, einem indigenen Stamm Mexikos. Er leitet die Pilgerreise, führt sie ein in die Traditionen, das Mystische ihrer Kultur. Die Schriftstellerin hört zu, möchte sie doch ein Buch schreiben. Und hinterfragt zugleich ihre Beweggründe. Ist sie nur eine weitere Weiße, die die indigene Kultur zu ihrem eigenen Vorteil ausbeutet? Wie kann sie, die jede Nachricht zur Klimakrise verfolgt, einen Langstreckenflug nach Mexiko rechtfertigen? Wie wird die Situation sein, wenn sie in wenigen Tagen nach London zurück kehren? Warum ist ihre Ehe gescheitert? Hätte sie überhaupt ein Kind in diese kaputte Welt setzen dürfen?

1969. Ein berühmter Sänger und seine Band sind über's Wochenende in Mexiko. Um aufzutreten, um wieder zu sich zu finden. Weil seine Bandmitglieder mit ihm reden wollen. Das Leben des Sängers ist durch den Erfolg aus den Fugen geraten. Aus einem abgemagerten, drogenkonsumierenden Musiker aus Leidenschaft ist eine übergewichtige Berühmtheit geworden, die Alkohol, Drogen und Sex braucht, um durch den Tag zu kommen, der seine Band und sein Management und vor allem den Ruhm hasst. Der zurückkehren möchte an die Anfänge seiner Karriere, als die Welt noch voller Möglichkeiten war und er Musik um der Musik willen machte. Bis Eva, der Assistentin während seines Aufenthalts, ihm dazu rät, den weißen Felsen aufzusuchen. Der Ort, um für Vergebung zu bitten. Der Ort, an dem ein Neuanfang nicht unmöglich scheint. Und so macht er sich auf zum weißen Felsen, der Wiege der Welt, anstatt nach Kalifornien zurückzukehren. In dem Wissen, dass er sonst sterben wird.

1907. Ein Yoeme-Mädchen und ihre verletzte Schwester befinden sich mit unzähligen anderen Yoemem eingepfercht in einem Sklav*innen-Schiff. Aufgegriffen in den Weiten ihres Zuhauses, verschleppt, abtransportiert, nähern sie sich dem Hafen am weißen Felsen. Dort wird ihr Übel erst beginnen: Die kleinen Kinder werden den Händen der Eltern entrissen, als Mexikaner*innen großgezogen und somit ihr indigenes kulturelles Erbe ausgelöscht. Der Rest hat einen 20-tägigen Marsch durch den Dschungel und die Berge vor sich bis zu der Eisenbahn. Ein Weg, auf dem viele ihr Leben lassen werden. Die Eisenbahn wird die Übriggebliebenen nach Mexiko City bringen, wo ein weiteres Schiff auf sie wartet. Ihr Ende, das grausamste von allen: Die berüchtigten Agaven-Plantagen, auf denen sie als Sklav*innen bis zum Tod arbeiten werden, ausgepeitscht und unterdrückt im Namen der spanischen Krone. Doch das Mädchen gibt nicht auf, noch glaubt es daran, sich und ihre Schwester retten zu können. Glaubt daran, dass sie zurückkehren wird in ihre Heimat. Wieder den warmen Sand unter ihren Füßen spüren und die Berge sehen wird. Sie glaubt daran, dass der weiße Fels ihr den Weg weisen wird.

1775. Der Leutnant eines spanischen Schiffs wartet am entlegensten Punkt des spanischen Herrschaftsgebiets, ein kleiner, unmoderner Hafen, gelegen an einem weißen Felsen, darauf, ausfahren zu können. Der Auftrag an ihn und seine vier Kameraden ist simpel: Die Küste entlang bis nach Kalifornien, das spanische Herrschaftsgebiet kartografieren. Für den Leutnant geht es noch weiter hinauf, hoch in den Norden. Über den 56. Breitengrad. Noch nie war jemand so weit nördlich. Er soll der Erste sein, das spanische Königreich erweitern, bevor es dem russischen Zarenreich oder der englischen Krone gelingt. Kurz vor dem Ablegen passiert etwas: Sein Freund und Kamerad Manrique verfällt dem Irrsinn. Möchte alle Captains ermorden, die Reise verhindern, alles niederbrennen. Was sie hier tun, ist falsch. Dieses Land, jedes Land gehört schon jemandem. Die Expansion, die Kolonialisierung, die Unterdrückung und Versklavung der indigenen Bevölkerung ist ein Fehler, der die Menschheit in schwere Sünde stürzt. Der Leutnant hört zu. Und beginnt nachzudenken. 

»Aber inzwischen hat sie gelernt, dass dies für die Wixárika Realität ist; wenn die eigene Kultur fünfhundert Jahre lang verfolgt und zerstört wurde, baut man keine Basilisken, die in der Sonne erstrahlen.«

Nach »Was wir sind« bin ich mit Erwartungen an »Der weiße Fels« herangegangen, die nicht erfüllt wurden. Stattdessen wurde ich überrascht. Auf eine wirklich positive Art und Weise. »Der weiße Fels« ist anders. Ist besonders. Und die Geschichte ist es wert, gehört zu werden. Es ist ein Ausschnitt unser aller Geschichte. »Der weiße Fels« umfasst fast 300 Jahre, ist eine Reise durch die Zeit, vom 21. bis ins 18. Jahrhundert und zurück zum weißen Felsen, Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte, und wieder zurück ins 21. Jahrhundert. Ich habe noch kein Buch wie dieses gelesen. Es sind vier Einzelgeschichten und doch ist es eine Ganzheit. Es ist die Geschichte der Menschheit, eine Geschichte Mexikos. Eine Geschichte über die indigene Bevölkerung. Über ihre Unsichtbarkeit, ihre Vertreibung, Unterdrückung, Versklavung. Über den bis heute andauernden Kampf der indigenen Bevölkerung, ihr Land wieder zu bekommen. Es ist ein Einblick in die Kultur, in Traditionen, die es wert sind, überliefert und erhalten zu werden. Gleichzeitig ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem westlichen Kolonialismus, mit der eurozentrischen Weltsicht. Es ist eine Reise in die Vergangenheit und ein Blick in die Zukunft. Wann lernt die Menschheit endlich aus den begangenen Fehlern? Wann ändern wir uns? Bleibt uns Zeit? Gibt es ein Morgen? Wie sollen wir leben, was sollen wir in unseren Herzen tragen?

Besonders gefallen hat mir in dem Kontext auch der Umstand, dass sich Anna Hope im Detail mit der indigenen Kultur und vor allem auch mit dem Problem der kulturellen Aneignung auseinandergesetzt hat, um eine dekolonisierende, nicht-bevormundende Geschichte zu schreiben.

» ›Unsere Welt ist auf ihrer Welt gebaut.‹ Sie begreift, wie er und seine Tochter sie sehen. Nur Indios. Nur die braune Erde, auf der sie ihre Welt errichtet haben. [...] Die Wut steigt in ihr auf und lässt ihre Knochen glühen. [...] Wie kommt es, dass manche Töchter in Sicherheit sind? Aber im nächsten Augenblick hat sie einen anderen Gedanken, und er ist überwältigend, erschreckend und befriedigend zugleich: Wie sicher ist die Welt dieses kleinen Mädchens, wenn sie auf Vernichtung errichtet wurde? Auf vernichtenden Menschen und vernichtenden Dingen? Auf der vernichteten Welt des großen Vaters?« 




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Daten zum Buch
Titel: Anna Hope
Autor*in: Der weiße Fels
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné
Verlag: Hanser
Hardcover | 336 Seiten | ISBN: 978-3-446-27626-0

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