Rezension zu »Alte Sorten« von Ewald Arenz

 

» ›Bäume kann man an einen Pfahl binden, damit sie gerade wachsen. Er hat sein Leben lang gedacht, dass man das auch mit Menschen machen kann.‹ «

Die 17-jährige Sally ist auf der Flucht: Aus der Einrichtung, in die ihre Eltern sie mal wieder aus Sorge eingewiesen haben. Vor ihren Eltern, die sich nicht anfühlen wie ihre Eltern und sie nicht verstehen. Vor ihrem Leben, das nicht das richtige zu sein scheint. Sie weiß nicht wohin, nur weg. Irgendwohin, wo ihre Wut sich in Grenzen hält und sich das Leben echter anfühlt, lebenswert. Irgendwohin, wo niemand sie und jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen be- und überwertet. Irgendwohin, wo niemand sie zum Essen zwingt, wo niemand ihre Narben anstarrt. Einfach weg, weit weg, raus. In einem Weinberg auf dem Land begegnet sie der 45-jährigen Liss. Wie Sally ist Liss eine Einzelgängerin, kümmert sich ganz alleine um den Bauernhof und die Felder ihrer Familie. Liss bittet Sally ihr zu helfen und Sally, überrascht von Liss' Art, hilft ihr. Liss bietet Sally ein Zimmer an und Sally sagt ja. Aus Tagen werden Wochen. Zwischen der Arbeit auf herbstlichen Feldern, dem Probieren alter Birnensorten, dem Kümmern um Bienen, dem Lesen von Büchern und all den kleinen und großen Handgriffen, die zum Alltag auf dem Bauernhof gehören, beginnen die beiden sich anzunähern. Leise, zaghaft, zögernd. Beginnen, sich zu öffnen, die richtigen Frage zu stellen und auch die falschen. Beginnen, darüber zu sprechen, was sie abschottet, aus- und abgrenzt von anderen. Als Sallys Anwesenheit auf dem Hof eine ungeahnte Krise auslöst, müssen Sally und Liss eine Entscheidung treffen: Zurück in ihr altes, einsames, sicheres Leben oder ein Wagnis eingehen, ein Bekenntnis zur Freundschaft und dem Leben.

»Sie arbeiteten schweigend. Der Garten war voller Bienengesumme und Septemberlicht und dem Duft der Birnen.«

Hach, was war das für ein schönes Buch! Die Naturbeschreibungen haben mich in eine andere Welt entführt. Ich saß an einem regnerischen Wochenende im Februar auf der Couch in Mittelfranken und wurde wegtransportiert, wurde mitgerissen in einen traumhaften September auf dem Land voller lebhafter Sinneseindrücke, Blumen, die ich fast riechen, Birnen, die ich fast schmecken konnte. Es war einfach schön! Doch nicht nur die Landschaft war schön, auch die Geschichte, die Ewald Arenz uns in »Alte Sorten« erzählt, hat mich berührt. Sallys Geschichte ging mir vielleicht sogar ein wenig zu sehr unter die Haut – das war das erste Mal, dass ich ein Buch gelesen und ich eine kleine Trigger-Warnung als hilfreich empfunden hätte. Stellt sich raus: Ich musste erst selbst getriggert werden, um zu verstehen, warum andere darauf wert legen. Aber auch das ist in dem Fall ein Kompliment an den Autor: Denn es war einfach so zutreffend, nachvollziehbar, echt. Ich habe mich in vielerlei Hinsicht identifizieren können mit der jungen Sally, auch heute mit 27 habe ich Zugriff und noch einen Teil der Restwut in mir, die ich mit 17 auf die Welt hatte, in vielerlei Hinsicht heute erneut habe. Es war echt und es war gut, es kam nur aus dem Nichts und hat mich kurz etwas überfordert, zurück geworfen in eine andere Zeit. 

»Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte.«

»Alte Sorten« erzählt die Geschichte von Sally und Liss. Zwei Menschen, die – ohne es zu wissen oder wahr haben zu wollen – einander brauchen. Um wieder zu leben anstatt nur zu existieren. Um die Schönheit, die Möglichkeiten dieser Welt wieder zu sehen. Um sich nicht länger zu verstecken. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die sich gegenseitig heilen. Von dem, was andere und sie selbst ihnen angetan haben. »Alte Sorten« ist eine Geschichte über Verständnis, über Freundschaft. Darüber, zu wissen, wann es Zeit ist, zu kämpfen und Zeit, loszulassen. Es ist die Erkenntnis, die Versicherung, das Versprechen, dass die Menschen, bei denen wir aufgewachsen sind, nicht zwangsläufig die sein müssen, zu denen wir gehören oder passen. Es ist eine Ermutigung dazu, daran zu glauben, dass es da draußen Menschen gibt, die uns akzeptieren, uns zuhören, uns sehen. Die uns nicht verändern wollen, sondern uns so nehmen, wie wir sind. Für uns da sind, komme was wolle und bedingungslos. Es ist ein Appell an die Menschlichkeit, an das Zusammen und Mit- statt Gegeneinander. Es ist Jugend und Alter, Schmerz und Heilung. »Alte Sorten« ist im wahrsten Sinne des Wortes entschleunigend. Es ist eine Liebeserklärung an die Schönheit, die Wildheit, die Unbezwingbarkeit der Natur. Eine Erinnerung an die Kraft, die in uns in allem steckt. Es ist eine Konzentration auf das, worauf es im Leben ankommt. Es ist Balsam für die Seele. Ein warmer Herbsttag mit Vogelgezwitscher in den Bäumen und kräftigen Sonnenstrahlen, die die Welt in ein goldenes Licht und unsere Herzen in Wärme tauchen. 

»... vielleicht würde Sonnenlicht schmecken so schmecken, wenn es einem nach einem langen Sommer durch das weite Blau des Himmels und dann durch das alte Grün hoher Bäume direkt auf die Zunge fiele.«




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Daten zum Buch
Titel: Alte Sorten
Autor*in: Ewald Arenz
Sprache: Deutsch
Verlag: DuMont
Taschenbuch | 256 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6530-7

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