Rezension zu »Macht« von Heidi Furre

»Die Frau ist eine Gastgeberin. Für die Körper und Bedürfnisse anderer. Für Schmerz, Männer, tote Embryos und Kinder. Der weibliche Körper ist ein Brunnen für ungebetene Gäste und Durstige.«

Livs Leben scheint perfekt zu sein: Sie ist Mitte 30 und arbeitet als Pflegerin, ein Job, der ihr viel abverlangt, ihr aber das Gefühl gibt, etwas von Wert zu tun. Zusammen mit ihrem liebevollen Ehemann Terje und ihren gemeinsamen Kindern Johannes und Rosa lebt sie in einem kleinen, schönen, mit Hingabe eingerichteten Einfamilienhaus in Oslo. Liv achtet auf sich, steckt viel Geld in ihr Äußeres: Die beste Kleidung, regelmäßiger Sport, kleinere Schönheitseingriffe, um ihr Alter zu verbergen. Doch hinter dieser stets perfekten, kontrollierten Fassade versteckt Liv ein Geheimnis, vor sich selbst und der Welt: Vor 15 Jahren wurde Liv vergewaltigt. Lediglich ihre beste Freundin und engste Vertraute Francis weiß davon. Aus Angst, erneut gefangen und hilflos zu sein, in der Rolle als ewiges Opfer, nicht nur in ihren eigenen, sondern in den Augen der anderen, hat sie sonst niemandem davon erzählt, nicht mal Terje weiß davon. Noch immer hat sie die Worte im Kopf, die ihr damals, am Tag danach, in der Notfallambulanz gesagt wurden: Sie könne es melden, doch es stünde Aussage gegen Aussage und meistens führe es zu nichts. Liv möchte kein Opfer sein. Liv möchte stark sein und scheinen. Denn was bedeutet es am Ende schon, vergewaltigt worden zu sein? Am Ende ist sie jede 10. Frau, nichts besonderes, nur eine unter vielen. All ihre Energie fließt in diesen perfekten äußeren Schein. Ihre Art der Verdrängung. Und doch kann sie sie nicht abschütteln, diese eine Nacht, die ihr Leben für immer verändert hat. 

»Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern, die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich, um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein.«

Den Besuch bei ihrer Zahnärztin schafft sie nur dank der Spritzen. So gern sie Joggen geht, so wenig kann sie alleine im Wald sein. Auf dem Nachhauseweg telefoniert sie mit Terje. Zum Einschlafen braucht sie Tabletten. Alle Entscheidungen, die sie trifft – bewusst und unterbewusst – stellen die Frage danach, ob sie sicher wäre, wenn sie dies und jenes tut. Meistens lautet die Antwort nein. Und manchmal googelt sie ihn, ihren Vergewaltiger. Sie weiß, wo er lebt, verfolgt sein Leben, fragt sich, ob er Reue empfindet. Ob er es wieder getan hat. Ob sie die erste war. Ob er ein guter Mensch ist oder ein schlechter. 

Als in ihrer Pflegeeinrichtung eine neue Patientin einzieht, wird Liv mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Der Bruder der Patientin, ein berühmter Schauspieler, der regelmäßig zu Besuch kommt, wurde einst wegen Vergewaltigung angeklagt und freigesprochen. Livs mühsam aufgebautes Gefühl von Kontrolle gerät ins Wanken und ihr wird bewusst, dass die Zeit reif ist. Dass sie sich auseinandersetzen muss mit der Gewalt, die ihr angetan wurde, um sie wiederzuerlangen, die Macht über sich selbst und ihr Leben. 

Ich mache euch nichts vor: »Macht« war keine leichte Lektüre, aber eine, die gelesen werden sollte. Im Zentrum von Livs Geschichte steht nicht die Tat der Vergewaltigung, sondern das Leben, das danach kommt. Denn

»Niemand bleibt nach einer Vergewaltigung liegen. Niemand. Alle stehen auf. Niemand hört danach auf, Mensch zu sein.«

»Macht« ist der eindringliche, bewegende Versuch einer Frau, mit ihrem Leben weiterzumachen. Es ist eine Geschichte von Gegensätzen: Liebe und Hass. Vergebung und Rache. Sex und Gewalt. Macht und Kontrollverlust. Weiterleben und Stehenbleiben. Verdrängung und Aufarbeitung. Ende und Anfang. Perfektion und Hässlichkeit. Gesehen werden und Unsichtbarkeit. Verlangen und Angst. Nähe und Einsamkeit. Freude und Verzweiflung. »Macht« ist eine Geschichte, die auf eine derart nüchterne, sachliche, distanzierte Art erzählt wird, dass sie tief unter die Haut geht. Es ist der Kampf einer Frau, stellvertretend für viel zu viele Frauen, Männer, Menschen, nach dem Wiedererlangen von Kontrolle, nach einem Abschluss. Es ist der Wunsch danach, wenn schon nie wieder heil, dann zumindest in Ordnung zu sein. Es ist der Versuch, mit etwas zu leben, dass dein Leben zerstört hat. Ein Bruch in der Normalität, ein Bruch in der Ordnung, ein Bruch, in dem was sein sollte. Und es ist eine Ermutigung, ein »Du bist nicht alleine.« – sei es als Überlebende*r einer Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, eines Übergriffs oder als jemand, der Angst hat. Angst davor, nachts alleine durch leere, dunkle Straßen zu laufen. Angst davor, nach Hause zu kommen. Angst davor, machtlos zu sein. 

»Ich frage mich, ob Männer das wissen – dass Frauen Angst davor haben, übermannt zu werden.« 

Dieses Buch wird mich noch eine Weile in meinen Gedanken begleiten. Jede zehnte Frau. Es sind zu viele. Viel zu viele. 




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Daten zum Buch
Titel: Macht
Autor*in: Heidi Furre
Sprache: Deutsch
Aus dem Norwegischen übersetzt von Karoline Hippe
Verlag: DuMont
Hardcover | 176 Seiten | ISBN: 978-3-8321-8222-9

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