Rezension zu »The Harpy« von Megan Hunter

»I asked my mother what a harpy was; she told me that they punish men, for the things they do.«

Augenscheinlich ist Lucy im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben: Ehefrau, Mutter zweier Söhne, halbtags selbstständig als freie Lektorin. Doch ein Anruf einer unbekannten Nummer bringt alles ins Wanken: Der Ehemann einer Arbeitskollegin ihres Mannes Jake erzählt ihr, dass Jake und seine Frau eine Affäre haben. Sie soll es wissen, findet er. Zwei Sätze, die feine Risse in Lucys Realität erzeugen. Als sie Jake damit konfrontiert, beteuert er, die Affäre zu beenden. Es sei ein Fehler gewesen, habe nichts zu bedeuten. Er bricht in Tränen aus. Lucy ist angewidert. Von ihm, seinen Tränen, seinen Worten, drückt ihm ihre Nägel so fest in seine Hand, wie sie nur kann. Jake macht ihr ein Angebot: Drei Mal darf Lucy ihn bestrafen, ihm weh tun. Ohne Vorwarnung, ohne Grenzen. Danach seien sie quitt und könnten zurückkehren zum Familienalltag, in dem Jake das Geld verdient, der liebevolle Vater für zwei Stunden am Tag ist, während die gesamte Haus- und Erziehungsarbeit an Lucy hängen bleibt. Lucy lässt sich auf das Angebot ein und ein gefährliches Spiel beginnt. Ein Spiel, das zu Vergebung führen sollte, doch nur Rache bedeutet. Gefühle werden wach in Lucy und bringen eine Seite von ihr ans Licht, die seit Jahrzehnten tief in ihr geschlummert hat: Rachsucht, Hass, Wildheit, ein Abgrund, geschaffen aus allem Negativen, das ihr im Leben widerfahren ist. Schon bald geht es nicht mehr nur um Jakes Betrug, es geht um alles. Nach und nach erkennt sich Lucy in der mythologischen Gestalt der Harpyie wider, ein Fabelwesen, das Lucy schon ihr Leben lang fasziniert hat. Zunehmend verliert sich Lucy in Gedanken an das Fabelwesen, an die nächste Bestrafung, geht auf in Gewaltfantasien, vernachlässigt ihren Beruf, ihre Familie, ihre häuslichen Aufgaben. Und während die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahn immer mehr verschwimmen, verändert sich Lucy. Eine Verwandlung, so unaufhaltsam und folgenschwer wie die Wut in ihr.  

Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Der Roman hat mich wirklich von Anfang an in Beschlag genommen. Wie Lucy durch die Harpyie in ihrem Handeln beeinflusst wurde, so hat dieser Roman auf mich gewirkt. Ich habe Rezensionen gelesen, in denen einige schreiben, dass die Bestrafungen, die Lucy an Jake verübt, schwer für sie waren, gegen ihre Moralvorstellungen verstießen und nicht nachvollziehbar waren. Ich muss gestehen, dass es mir genau anders ging: Ich wollte mehr. Weil Jake es verdient hat, zu leiden. Nicht nur wegen der Affäre, die könnte man ihm vielleicht vergeben, unter den richtigen Umständen. Sondern und vor allem wegen seines Charakters. Er zeigt zu wenig Reue, findet die Konfrontation eher lästig als nötig, die beiden reden kaum mit einander, seine Entschuldigungen sind spärlich und halbherzig, sein Vorschlag der drei Bestrafungen ein Versuch, alles mit möglichst wenig Widerstand hinter sich zu bringen. Dafür soll er leiden. Dafür, dass er sich nicht einbringt ins Familienleben. Dafür, dass alles an Lucy hängen bleibt. Dafür, dass er den ganzen Tag arbeiten geht, während sie ein Zuhause schafft und dann noch die Dreistigkeit hat, abends wegzubleiben, um sie zu betrügen und es lästig zu finden, als sie es rausfindet. Diese Ehe war vorbei längst bevor Lucy von der Affäre wusste, ihr Spiel nur ein Augenverbergen vor der Wahrheit. Aber es hat mich gepackt. Ich hätte ihm Schlimmeres angetan als Lucy. Lucy, die im Zentrum dieser Geschichte steht, sie und die Harpyie, zwei Gestalten und vielleicht doch nur eine. Ihre schrittweise Veränderung habe ich mit Faszination beobachtet und mehr und mehr verstanden. Es ging nie nur um Jakes Betrug. Er war der Auslöser, er war das Tröpfchen zu viel auf dem heißen Stein einer Oberfläche, unter der es seit Jahren brodelte. Früher oder später musste Lucy auf- und zerbrechen, das ist mir jetzt klar. Jahre der Verdrängung, der seelischen Schmerzen, des Zurücksteckens, der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, von Kindheit an bis zur Mutterschaft. Sprachgewaltig, poetisch und archaisch-mythologisch beschreibt Megan Hunter auf knapp 200 Seiten den inneren Kampf einer Frau: mit ihr selbst und der Welt. Erzählt von Liebe und Verrat, Rachgier und Schmerz, Mutterschaft und Frausein. Ein Kampf, ausgetragen tief im Inneren der Seele und ihrer Befreiung. Eine Befreiung, mystisch und so offen, dass man für sich selbst entscheiden kann, wie diese Geschichte endet. Ich hätte gerne mehr gelesen, wäre gerne noch tiefer eingetaucht in Lucys Psyche, aber dennoch bin ich fasziniert von diesem Buch, das noch einige Zeit nachhallen wird. Denn am Ende geht es umso viel mehr als um Lucy. Sie und ihre Geschichte sind stellvertretend für so viele Frauen, über Jahrhunderte hinweg, die leiden musste unter den Männern. 

»There is a trail of anger flowing through my bloodline, from my great-grandmother, to my grandmother, to my mother, to me. Perhaps it goes even further back too, to my great-great-grandmother, who had twelve children, three of whom died.«




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Daten zum Buch
Titel: The Harpy
Autor*in: Megan Hunter
Sprache: Englisch
Verlag: Picador
Taschenbuch | 208 Seiten | ISBN: 978-1-5290-1023-7 

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